Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
verlaufen, und was für eine Art Landschaft lag wohl hinter der schwarzen Klippe?
Und welche Warnung für Reisende müsste die Legende zu einer solchen Karte enthalten – mal abgesehen von ›Achtung! Fliegende Ratten!‹?
15. Kapitel
A
m Morgen erwachte Hugo mit knurrendem Magen – und bekam gleich einen Riesenschreck. Beide Feuer waren ausgegangen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er ohne den Schutz der Flammen geschlafen hatte. Draußen war helllichter Tag, die Höhle und die Asche in den Feuerstellen waren kalt. Die Hand tat ihm weh, weil er das Springerfigürchen beim Schlafen so fest umklammert hatte.
Mit dem Tornister über der Schulter zwängte er sich in den Höhleneingang, bis er nach draußen spähen konnte. Alles machte einen friedlichen Eindruck. Als er sich vergewissert hatte, dass keine Ungeheuer am Himmel kreisten, wagte er sich ins Freie.
Draußen auf dem Meer zeichnete die dichte Nebelwand den Küstenverlauf nach. Der Strand lag so unschuldig da wie am Vorabend, als er mit Onkel Walter Krebse gegrillt hatte. Beim Gedanken an dieses idyllische Mahl hatte Hugo einen Kloß im Hals. Welch schreckliche Wendung ihr Schicksal doch genommen hatte!
Wenn er seinen Onkel wiederfinden wollte, musste er die Klippen hochklettern, so viel war ihm klar. Er stellte den Fuß auf einen winzigen Vorsprung – es war kaum mehr als ein Hubbel– und stieß sich vom Boden ab. Als seine Hand Halt gefunden hatte, tastete er mit dem anderen Fuß umher und entdeckte eine kleine Vertiefung. Doch als er sich weiter hochziehen wollte, rutschte er mit dem Fuß ab, schlug gegen die Felswand und plumpste wie ein nasser Sack in den Sand.
Ein ums andere Mal probierte er, den schwarzen Felshang zu erklimmen, aber das Gestein war einfach zu glatt. Er landete unweigerlich unten im Sand.
»Es ist zwecklos«, schimpfte er vor sich hin. »Da komme ich nie im Leben hoch!«
»Doch, du schaffst es«, sagte da jemand leise.
Hugo fuhr zu Tode erschrocken herum. Auf dem Strand war niemand zu sehen. »Wer behauptet das?«
»Ich.«
Hugo sah immer noch niemanden.
»Hier unten.«
Hugo senkte den Blick. Erst konnte er nichts erkennen – dann sah er ein mäusegroßes Geschöpf im Sand sitzen.
Es hatte weiches weißes Fell mit einem schwarzen Streifen von der Nasenspitze bis zur Schwanzwurzel. Die Ohren waren haarlos und durchscheinend, rosig wie die Haut eines neugeborenen Hamsters und auffallend groß – ein jedes war so groß wie der ganze Kopf. Das Tierchen saß auf den Hinterläufen und hatte die Vorderpfoten angezogen. Hinter ihm ringelte sich der lange, ebenfalls haarlose Schwanz. Über der schnurrbärtigen rosa Schnauze blitzten Hugo zwei Knopfaugen an.
Hugo bückte sich nach einem Ast und hockte sich hin. Dann streckte er die zitternde Hand aus.
Das Tierchen öffnete das Maul und bleckte die winzigen, nadelspitzen Zähne.
Dann sprach es wieder.
»Du willst mich doch wohl mit dem Ast nicht pieken!« Seine Stimme war alles andere als piepsig.
Hugo bekam einen solchen Schreck, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Hintern plumpste. Voller Panik krabbelte er rückwärts, bis er mit der Schulter an die Felswand stieß. Von dort aus starrte er das Mäusewesen mit hervortretenden Augen an.
»Was gaffst du denn so? Hab ich Seetang an der Schnauze, oder was?« Das Tierchen schielte bei dem Versuch, seine eigene Nase zu betrachten.
»Nein«, hörte Hugo sich erwidern. »Deine Schnauze ist blitzsauber.«
»Dann sind’s wohl meine Ohren, die du anglotzt?«
Hugo bekam kaum Luft. »Nein. Ich bin bloß so verblüfft, dass du sprechen kannst.«
»Klar kann ich sprechen. Ich hab vielleicht ulkige Ohren, aber ich bin nicht blöd.«
Hugo überlegte, ob er sich letzte Nacht vielleicht irgendwo den Kopf gestoßen und den Verstand verloren hatte, dann fielen ihm die Vogelschreie wieder ein. Er kniff die Augen fest zusammen und schüttelte energisch den Kopf. »Jetzt reiß dich aber mal zusammen, Hugo!«, ermahnte er sich energisch.
Er öffnete die Augen und blickte das Tierchen wieder an.
»Ja, reiß dich zusammen, Hugo«, pflichtete ihm die schlappohrige Maus bei. »Meistens ist alles nur halb so schlimm. Ich habe gerade den allerschlimmsten Morgen meines Lebens hinter mir, aber ich lasse mich schließlich auch nicht unterkriegen.«
»Was ist dir denn zugestoßen?«, erkundigte sich Hugo höflich und versuchte, nicht daran zu denken, dass er sich mit einer Maus unterhielt.
Das Tierchen sprudelte los: »Ich war mit nichts
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