Perdido Street Station 01 - Die Falter
überlebensgroßen Heliotypen überall in der Stadt. Es war Bürgermeister Rudgutter.
Die drei Männer in dem Raum musterten sich gegenseitig schweigend.
»Mr. Flex«, sagte Rudgutter schließlich. »Wir haben miteinander zu reden.«
»Nachricht von Girrvogel!« Einen Brief schwenkend kehrte Isaac an den Tisch zurück, den er und David in Lublamais Ecke hinübergerückt hatten. Das war ihr Stützpunkt, dort hatten sie den ganzen letzten Tag gesessen und Kriegsrat gehalten.
Auf einer Bettstatt an der Wand lag Lublamai wie eine atmende Leiche, seine regelmäßige Verdauung war ungefähr das einzige Lebenszeichen.
Lin saß bei ihnen am Tisch, sie naschte lustlos Bananenscheiben von einem Teller. Nachdem sie gestern zur Tür hereingekommen war, hatte Isaac ihr stockend und unzusammenhängend das Vorgefallene berichtet. Sowohl er als auch David machten den Eindruck, als stünden sie unter Schock. Erst nach ein paar Minuten hatte Lin in einer dunklen Ecke Yagharek bemerkt. Sie wusste nicht, ob oder wie sie ihn begrüßen sollte, und hatte sich mit Fingerzeichen kurz vorgestellt, was er ignorierte. Als sie zu viert ihr trostloses Abendessen einnahmen, kam er und gesellte sich zu ihnen, nach wie vor in seinen enormen Umhang gewickelt, der die Flügelattrappen verhüllte, von denen Isaac ihr erzählt hatte. Natürlich ließ sie sich nicht anmerken, dass sie über die Maskerade Bescheid wusste.
Sie hatte an diesem langen, trübsinnigen Abend viel Zeit gehabt, nachzugrübeln: Endlich hatte sich Isaac offen zu ihr bekannt. Bei der Begrüßung hielt er ihre Hände fest; als sie einwilligte zu bleiben, hatte er nicht einmal zur Wahrung des Scheins ein zusätzliches Bett aufgestellt. Doch es war kein Triumph, nicht die beseligende große Liebeserklärung, die sie sich gewünscht hätte. Der Grund für die Änderung seines Verhaltens lag auf der Hand.
David und er hatten den Kopf voll mit wichtigeren Dingen.
In einem kritischen Winkel ihres Herzens mochte sie immer noch nicht glauben, dass seine Wandlung vollständig war. Sie wusste, David war ein alter Freund von ähnlich liberaler Gesinnung, der die problematische Situation verstand – falls er sich überhaupt Gedanken darüber machte – und auf dessen Diskretion man sich verlassen konnte. Doch sie erlaubte sich nicht, gekränkt zu sein; es war hässlich und egoistisch, an sich zu denken, während es Lublamai so schlecht ging.
Natürlich bedrückte Lublamais Zustand sie nicht so sehr wie seine Freunde, aber der Anblick dieser sabbernden leeren Hülle auf der Pritsche bestürzte und erschreckte sie. Wie gut, dass Vielgestalt irgendwelcher Geschäfte wegen die Arbeit an seinem Standbild ruhen lassen musste. So hatte sie Zeit für Isaac, der vor Kummer und Schuldgefühlen am Boden zerstört war.
Hin und wieder überkam ihn fiebriger Tatendrang, er sprang auf, rief: »Also gut!«, und rieb sich entschlossen die Hände, doch es gab keine Entschlüsse zu fassen und nichts zu tun. Ohne Anhaltspunkt, ohne eine Spur konnte man nur abwarten.
In dieser Nacht hatten sie und Isaac beide oben geschlafen, er Trost suchend an sie geschmiegt ohne die mindeste Regung seines Geschlechts. David war nach Hause gegangen, mit dem Versprechen, morgens wiederzukommen. Yagharek – eine Matratze wollte er nicht – hatte sich in einer Ecke zur Nacht niedergelassen, im Schneidersitz, den Oberkörper vorgebeugt, offenbar, um seine falschen Flügel nicht zu beschädigen. Ob er ihr etwas vormachen wollte oder wirklich, immer noch, in derselben Haltung schlief wie schon all sein Leben – Lin wusste es nicht.
Am nächsten Morgen saßen sie um den Tisch, tranken Kaffee oder Tee, frühstückten ohne Appetit und fragten sich, was sie unternehmen sollten. Als Isaac nach der Post sah, sortierte er mit fliegenden Fingern die Makulatur aus und kam mit Lemuels Brief zurück, ungestempelt, von einem Laufburschen in den Kasten gesteckt.
»Was schreibt er?«, fragte David eifrig.
Isaac hielt das Blatt so, dass David und Lin über seine Schulter mitlesen konnten. Yagharek blieb im Hintergrund.
Habe den Lieferanten der rabiaten Raupe in meinen Büchern gefunden. Ein gewisser Josef Cuaduador. Aquisitionsregistrar im Parlament. Um keine Zeit zu vergeuden, und motiviert von einer zugesagten fetten Vergütung, habe ich mir die Freiheit genommen, Mr. Cuaduador einen Besuch abzustatten, in Begleitung meines imposanten Geschäftspartners Mr. X. Übte ein wenig Druck aus, zwecks Förderung der
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