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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Sichelkrallen zog er durch den Panzer hindurch an einer Seite des Rumpfes hinauf, unter dem Kinn des Unglücklichen hindurch und auf der anderen Seite nach unten, anschließend pflückte er einen Knochen nach dem anderen aus dem dampfenden Fleisch. Der Mann hatte geschrien und gezappelt und geschrien, während der Weber ihn ausweidete und dabei in einem melodischen Singsang oneirischer Rätsel erläuterte, was er meinte.
    Rudgutter war sich im Klaren darüber, dass der Weber alles tun würde, was seiner Meinung nach zur Vervollkommnung des Weltnetzes beitrug. Vielleicht stellte er sich tot oder formte aus den Steinplatten des Fußbodens das Standbild eines Löwen. Möglicherweise stach er Eliza die Augen aus. Was immer nötig war, um das Muster im Gewebe des Æthers zu gestalten, das nur er sehen konnte; was immer nötig war, um an dem Bildteppich weiterzuweben.
    Kapnellior, wie er über Textorologie – die Wissenschaft von den Webern – dozierte, kam Rudgutter in den Sinn. Weber waren unglaublich selten und nur sporadische Bewohner der konventionellen Realität. Nur zwei waren seit Entstehung der Stadt von New Crobuzons Forschern entdeckt worden. Auf der Karte von Kapnelliors Wissensgebiet gab es noch viele weiße Flecke.
    Zum Beispiel, was diesen Weber veranlasst hatte zu bleiben. Vor mehr als 200 Jahren hatte er auf seine elliptische Weise dem damaligen Bürgermeister Dagman Beyn zu verstehen gegeben, dass er unter der Stadt seinen Wohnsitz zu nehmen gedachte. Ein oder zwei Legislaturen hatten die Größe besessen, ihn unbehelligt zu lassen, die meisten jedoch konnten der lockenden Vorstellung eines solchen Verbündeten nicht widerstehen. Seine gelegentlichen Interaktionen – manche banal, manche fatal – mit Bürgermeistern und Wissenschaftlern bildeten die hauptsächliche Grundlage für Kapnelliors Studien.
    Kapnellior selbst war Evolutionist. Er vertrat die These, die Weber seien eine Spezies gewöhnlicher Spinnen, die einer torquischen oder thaumaturgischen Irrationalität ausgesetzt gewesen waren – vor dreißig-, vierzigtausend Jahren, wahrscheinlich in Sagrimai –, mit der Folge eines kurzlebigen evolutionären Schubs von explosiver Kraft. Innerhalb weniger Generationen, hatte er Rudgutter erklärt, mutierten die Weber von geistlosen Räubern zu Ästheten von erstaunlicher intellektueller und materiothaumaturgischer Kompetenz, superintelligente, fremdartige Hirne, denen ihr Netz nicht mehr Werkzeug war, sondern Objekt der Schönheit, untrennbar verwoben mit dem Gewebe der Realität an sich. Ihre Spinndrüsen waren zu spezialisierten, extradimensionalen Organen geworden, die in die Welt integrierte Muster woben; die Welt, die für sie ein Netz war.
    Alte Geschichten wussten zu berichten, wie Weber sich über ästhetischen Streitfragen töteten, zum Beispiel, ob es attraktiver wäre, eine Armee von tausend Mann zu vernichten oder leben zu lassen, oder ob ein bestimmtes Gänseblümchen gepflückt werden sollte oder nicht. Für einen Weber hieß denken, nach den Maßstäben der Ästhetik zu denken. Zu handeln – zu weben – bedeutete, noch schönere Muster hervorzubringen. Sie nahmen keine stoffliche Speise zu sich, sondern schienen vom Schwelgen in Schönheit satt zu werden.
    Einer Schönheit, unerkannt von Menschen oder anderen Bewohnern der mundanen Ebene.
    Rudgutter betete inbrünstig, der Weber möge nicht zu der Ansicht gelangen, Rescue auszubeinen könnte ein ansprechendes Ornament im All ergeben.
    Nach bangen Sekunden bewegte der Weber sich gravitätisch rückwärts, immer noch die Hand mit den gespreizten Fingern hochhaltend. Rudgutter stieß erleichtert den Atem aus und hörte seine Kollegen und die Männer der Eskorte das Gleiche tun.
    … FÜNF …, raunte der Weber.
    »Fünf«, stimmte Rudgutter beherrscht zu. Rescue nickte steif.
    »Fünf«, flüsterte er.
    »Natürlich hast du Recht, Weber«, nahm Rudgutter das Gespräch wieder auf. »Wir wollen über die fünf Kreaturen sprechen, die in der Stadt ihr Unwesen treiben. Wir sind beunruhigt ihretwegen – genau, so scheint es, wie du. Wir sind gekommen, dich zu fragen, ob du uns helfen willst, sie zu vertreiben. Einzukreisen. Auszumerzen. Zu töten. Bevor sie das Netz beschädigen.«
    Es folgte ein Moment des Schweigens, dann tanzte der Weber plötzlich und gedankenschnell von einer Seite zur anderen. Die Spitzen seiner Lanzenbeine trippelten einen akustischen Hagelschauer. Er vollführte bizarre Hüpfer.
    … OHNE IHR FRAGT DAS NETZ IST

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