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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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hinausgezögerten Todes. Isaac rümpfte die Nase über den Gestank. Die Flügel faulten auf dem Rücken des Remade langsam vor sich hin.
    »Hast du Schmerzen?«, wollte Derkhan wissen.
    »Lässt sich aushalten«, gab der Remade zur Antwort. »Jedenfalls bin ich froh, hier Unterschlupf gefunden zu haben.« Er wies auf das Zelt und auf die Gitterstäbe. »Ein Schlafplatz und was zu essen. Deshalb wäre ich den Herrschaften mehr verbunden, als ich sagen kann, wenn sie davon absehen würden, dem Direktor zu erzählen, dass Sie den Schwindel durchschaut haben.«
    Haben die Besucher, die sonst hierher kommen, diese fadenscheinige Maskerade tatsächlich akzeptiert?, wunderte sich Isaac. Sind die Leute so einfältig, dass sie wirklich glauben, diese groteske Gestalt könne fliegen?
    »Wir werden nichts sagen«, versprach Derkhan, Isaac nickte bestätigend. In ihm kochten Mitleid und Zorn und Widerwille. Er wünschte sich nichts dringender, als den Staub dieses Ortes von den Füßen zu schütteln.
    Hinter ihnen rauschte der Vorhang, und ein Trüppchen junger Frauen kam herein; sie flüsterten und lachten über Zweideutiges. Der Remade schaute über Derkhans Schulter zu ihnen hin.
    »Ah!«, sagte er laut. »Besucher aus dieser seltsamen Stadt. Kommt näher, nehmt Platz, lasst euch erzählen vom gefahrvollen Leben in der Wüste! Verweilt ein wenig bei einem Reisenden von weit, weit her!«
    Er warf Isaac und Derkhan einen beschwörenden Blick zu, während er sich von ihnen entfernte. Die heiteren Besucherinnen begrüßten ihn mit entzückten und staunenden Kieksern.
    »Zeig uns, wie du fliegst!«, rief eine von ihnen.
    »Leider«, hörten Isaac und Derkhan beim Verlassen des Zeltes, »ist das Wetter in eurer Stadt zu unbekömmlich für meinesgleichen. Ich habe mir eine Erkältung zugezogen und bin fürs Erste nicht in der Lage zu fliegen. Doch schenkt mir etwas Zeit, und ich erzähle euch, wie es ist, am wolkenlosen Himmel über der Wüste zu kreisen …«
    Der Vorhang fiel zu, das Weitere war unverständlich.
    Isaac schaute zu, wie Derkhan in ihr Notizbuch schrieb.
    »Was wird das für ein Artikel?«, fragte er.
    »›Remade durch grausames Urteil des Magistrats gezwungen, sein Leben in einer Monstrositätenschau zu fristen.‹ Ich werde nicht sagen, welchen ich meine«, erklärte sie, ohne von ihrem Block aufzuschauen. Isaac nickte.
    »Lass uns gehen«, brummte er. »Ich kaufe uns diese Zuckerwatte.«
     
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie verdammt deprimiert ich bin«, sagte Isaac dumpf. Er biss in den klebrigsüßen Bausch, den er auf einem Holzstiel in der Hand trug. Zuckrige Faserflöckchen hafteten in seinen Bartstoppeln.
    »Doch. Aber bist du deprimiert über das Schicksal des armen Mannes oder weil er kein echter Garuda war?«
    Er und Derkhan hatten die Menagerie verlassen. Hingebungsvoll Zuckerwatte zupfend, spazierten sie an dem bunten, lärmenden Kirmestrubel vorbei. Isaac erforschte sein Gewissen, Derkhans Frage hatte ihn verunsichert.
    »Also, ich muss zugeben, wahrscheinlich weil er kein Garuda war. Aber«, fügte er zu seiner Verteidigung hinzu, »ich wäre nicht halb so deprimiert, wenn es nur ein üblicher Beschiss gewesen wäre, jemand in einem Kostüm. Es ist diese gottverdammte – Würdelosigkeit, die einem sauer aufstößt …«
    Derkhan nickte sinnend. »Wir könnten uns hier auf die Suche nach einem Garuda machen«, schlug sie vor. »Der Jahrmarkt müsste einen oder zwei von den in der Stadt Geborenen angelockt haben.« Sie schaute zum Himmel, vergebens. Hinter den vielen bunten Lichtern verblassten die Sterne.
    »Nicht jetzt.« Isaac seufzte. »Ich bin nicht in der Stimmung. Mein Enthusiasmus hat einen zu großen Dämpfer bekommen.«
    Sie gingen in langem, kameradschaftlichem Schweigen nebeneinander her, bis er wieder das Wort ergriff.
    »Willst du wirklich im Lauffeuer einen Artikel über diesen Rummel hier veröffentlichen?«, fragte er.
    Derkhan zuckte die Schultern und schaute sich kurz um, ob sich niemand anderer in Hörweite befand.
    »Es ist schwierig, sich mit den Remade zu befassen«, sagte sie. »Verachtung, Vorurteile. Teile und herrsche. Demonstrative Eingliederung, damit die Leute nicht glauben, sie wären Monstren – es ist wirklich kompliziert. Natürlich weiß man, dass die Remade zu neunundneunzig Prozent ein beschissenes Dasein führen. Aber bei vielen Leuten hält sich die vage Vorstellung, sie hätten es verdient, auch wenn sie ihnen Leid tun. Oder sie glauben, es wäre von den

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