Perdido Street Station 01 - Die Falter
Isaac ließ den Blick ungläubig über die bizarre Erscheinung wandern. Auf den frierend einwärts gebogenen Zehen saßen bizarre Auswüchse: Raubvogelkrallen, wie von einem Kind aus Lehm geknetet. Um den Kopf sträubten sich vom Scheitel bis zum Hals Federn aller Formen und Größen; die eitrig verkrusteten Augen, die die Besucher kurzsichtig anblinzelten, waren Menschenaugen. Der Schnabel war groß und fleckig wie altes Zinn.
Auf dem Rücken der Jammergestalt kümmerte ein schmutzverklebtes, übel riechendes Flügelpaar von schätzungsweise nicht mehr als zwei Metern Spannweite von Spitze zu Spitze. Sie öffneten sich halb, ruckweise und zitternd, wie gegen einen starken Widerstand. Irgendwelcher krümeliger Unrat rieselte aus der schütteren Befiederung.
Die Schnabelhälften teilten sich, und in der Öffnung entdeckte Isaac Lippen, die die Worte formten, darüber Nasenlöcher. Der Schnabel war nichts weiter als eine krude Attrappe, über Nase und Mund gestülpt wie eine Gasmaske und operativ mit dem lebenden Gewebe verbunden.
»Lasst euch berichten, wie ich mich aus dem Himmel auf das tief unten flüchtende Wild gestürzt habe…«, wollte die traurige Karikatur eines Garuda fortfahren, doch Isaac gebot ihm mit der erhobenen Hand zu schweigen.
»Das reicht!«, blaffte er. »Verschone uns mit diesem peinlichen Geschwätz …«
Der falsche Garuda prallte erschreckt zurück.
Geraume Zeit sprach keiner ein Wort.
»Was ist los, mein Herr?«, fragte die Kreatur hinter den Gitterstäben schließlich angstvoll. »Was habe ich falsch gemacht?«
»Ich bin hergekommen, um einen gottverdammten Garuda zu sehen«, grollte Isaac. »Für wie blöd hältst du mich? Du bist ein Remade, Freundchen – das sieht ein Blinder mit dem Krückstock.«
Die klaffenden Schnabelhälften schlugen klackend zusammen, als der Mann sich über die Lippen leckte. Sein Blick huschte nervös nach rechts und links.
»Um Jabbers willen, Herr«, raunte er flehend, »beschweren Sie sich nicht. Das hier ist alles, was ich habe. Sie sind offenbar ein gebildeter Mann … Die meisten Besucher sind mit mir als Garuda zufrieden, sie wollen weiter nichts als ein paar aufregende Geschichten hören und den Vogelmann sehen, und damit verdiene ich mir mein Brot.«
»Gottschiet, Isaac«, flüsterte Derkhan. »Reg dich nicht auf.«
Isaac war zutiefst enttäuscht. Er hatte sich im Kopf einen Katalog von Fragen zurechtgelegt, sich ein genaues Bild davon gemacht, wie er die Schwingen untersuchen wollte, welche Verbindungen von Muskeln, Sehnen und Knochen besondere Aufmerksamkeit verdienten. Er war bereit gewesen, guten Lohn für die Untersuchungen zu zahlen, wollte Ged einbeziehen, der somit Gelegenheit bekam, seine Neugier bezüglich der Bibliothek des Cymek zu stillen. Sich stattdessen einem verängstigten, siechen Menschen gegenüberzusehen, der ein Sprüchlein herunterleierte, dessen selbst die armseligste Pawlatsche sich geschämt hätte, traf ihn wie ein kalter Wasserguss.
Sein Ärger wurde durch Mitleid gemildert, als er den falschen Garuda genauer in Augenschein nahm. Der Mann hinter den fremden Federn umklammerte wie Halt suchend mit der rechten Hand den linken Arm. Um atmen zu können, musste er den lächerlichen Schnabel öffnen.
»Jabbers Arsch!«, fluchte Isaac halblaut.
Derkhan war an den Käfig herangetreten.
»Was hast du verbrochen?«, fragte sie.
Der Mann schaute sich wieder sichernd um, bevor er antwortete.
»Hab hier und da was mitgehen heißen«, sagte er hastig. »Wurde geschnappt, als ich bei einer alten Vettel draußen in Chnum das Gemälde eines Garuda abräumen wollte. Ist ein Vermögen wert. Der Magistrat sagte, da ich eine solche Vorliebe für Garudas hätte -«, ihm versagte für einen Moment die Stimme, »- sollte ich ihnen ähnlich sein.«
Man konnte sehen, wie die Federn an seinem Kopf brutal und achtlos eingepflanzt worden waren und wahrscheinlich unter der Haut verbunden, damit der Delinquent aus Angst vor dem Schmerz gar nicht erst auf den Gedanken kam, sie auszureißen. Isaac malte sich aus, wie die Federkiele in Haut und Fleisch drangen, ein quälendes Mal ums andere. Als der Remade sich Derkhan zuwandte, wurde auf seinem Rücken der hässliche Knoten aus verhärtetem Gewebe sichtbar, wo die Schwingen, einem Bussard oder Geier geraubt, mit den menschlichen Muskeln verbunden worden waren. In Folge der willkürlich und sinnlos verknüpften Nervenenden wirkten ihre Bewegungen wie das bange Zucken eines lange
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