Perdido Street Station 01 - Die Falter
hauchte Lemuel der Nachricht Leben ein und sandte sie aus. Gauner hörten es von Drogendealern, Straßenhändler erzählten es zweifelhaften Gentlemen, Ärzte mit fragwürdigem Berufsethos erfuhren es von nebenberuflichen Rausschmeißern.
Isaacs Begehr raunte sich durch Elendsquartiere und die luftigen Kolonien, die aus dem menschlichen Sumpf emporsprossen.
Wo graue Mietskasernen graue Schatten über Gassen und Höfe warfen, entstanden aus dem Nichts hölzerne Plankenstege, die ein Verbindungsnetz schufen, untereinander, mit Straßen und Magazinen, wo müde Lasttiere Billigwaren hin und her schleppten. Brücken reckten sich geschienten Gliedmaßen ähnlich über Sickergruben. Isaacs Botschaft wurde auf den Pfaden der streunenden Katzen durch die chaotische Stadt über der Stadt getragen.
Kleine Expeditionen urbaner Abenteurer fuhren mit der Sink Line nach Süden bis Fell Stop und drangen in den Rudewood ein. So lange es möglich war, folgten sie von Schwelle zu Schwelle den stillgelegten Gleisen, vorbei an dem namenlosen, verlassenen Bahnhof im Niemandsland des Waldes. Die Perrons waren im Grün versunken, die Gleise überwuchert von Löwenzahn und Fingerhut und wilden Rosen, die sich frech durch den Schotter gebohrt und hier und da die Schienen verbogen hatten. Teerholzbäume und Banyans und Immergrün rückten von allen Seiten näher an die Eindringlinge heran, bis sie umzingelt waren, gefangen in einer Falle aus wuchernder Vegetation.
Sie rückten an mit Säcken und Katapulten und großen Netzen. Sie schleppten ihre plumpen städtischen Kadaver durch verschlungenes Wurzelwerk und düstere Baumschatten, stolpernd, lärmend und brüllend. Sie bemühten sich zu erkennen, aus welcher Richtung das Vogelgezwitscher kam – scheinbar von überallher. Sie stellten hinkende und nutzlose Vergleiche an zwischen der Stadt und dieser ihnen fremden Welt: »Wenn man sich in Dog Fenn zurechtfindet«, sagte wohl einer in falscher Einschätzung der Lage, »findet man sich überall zurecht.« Sie drehten sich um die eigene Achse, hielten Ausschau nach dem Milizturm von Vaudois Hill und fanden ihn nicht. Er war unsichtbar hinter den Bäumen.
Ein paar blieben verschollen.
Die meisten aber tauchten irgendwann wieder auf aus der grünen Hölle, voller Kletten, zerstochen, zerkratzt und wütend, mit leeren Händen. Sie hätten ebenso gut Gespenster jagen können.
Gelegentlich gab es Erfolge zu vermelden, und eine wild flatternde Nachtigall oder ein Rudewood-Fink wurden unter törichtem und unangemessenem Jubelgeheul mittels eines übergeworfenen groben Tuchs ihrer Freiheit beraubt. Hornissen bohrten den Stachel in das Fleisch ihrer Häscher, während sie in Einmachgläser und Kumpen gefegt wurden. Wenn sie Glück hatten, dachten die großen Jäger daran, den Deckel mit Luftlöchern zu versehen.
Viele Vögel und noch mehr Insekten starben. Die überlebten, reisten in die graue Stadt gleich hinter den Bäumen.
In der Stadt selbst kletterten Kinder an Hauswänden hinauf, um Eier aus den Nestern unter maroden Traufen zu stehlen. Die Raupen und Larven und Puppen, die sie in Streichholzschachteln aufbewahrten und sonst gegen Bindfaden oder Schokolade eintauschten, waren plötzlich bares Geld wert.
Ohne Unfälle ging es nicht ab. Ein Mädchen mit Absichten auf die Brieftauben des Nachbarn stürzte vom Dach und erlitt einen Schädelbruch. Ein alter Mann auf der Suche nach Larven wurde von Bienen totgestochen.
Seltene Vögel und Insekten wurden gestohlen. Manche entwischten. Neue Jäger und Gejagte belebten für kurze Zeit den Himmel über New Crobuzon.
Lemuel verstand sein Geschäft. Manch anderer hätte nur die Verbindungen zur Unterwelt spielen lassen, nicht so er. Er sorgte dafür, dass Isaacs Wünsche auch in den Nobelvierteln bekannt wurden: Gidd, Canker Wedge, Mafaton und Nigh Sump, Ludmead und The Crow.
Beamte und Ärzte, Anwälte und Notare, Hoteliers, reiche Privatiers – sogar das Militär: Lemuel hatte schon häufig (meistens indirekt) mit den Stützen der Gesellschaft zu tun gehabt. Der hauptsächliche Unterschied zwischen ihnen und den weniger begüterten Klassen bestand nach seiner Erfahrung in der Höhe der Summen, die sie aufhorchen ließen, und den Möglichkeiten, ungeschoren davonzukommen.
In den Salons und Speisezimmern erhob sich interessiertes Geraune.
Im großen Saal des Parlaments fand eine Debatte über die Steuergesetzgebung statt. Bürgermeister Rudgutter saß majestätisch auf seinem Thron und
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