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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Göttern so bestimmt oder ähnlichen Blödsinn.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Gottschiet!«
    »Was ist?«
    »Vor kurzem war ich dabei, wie in einer Gerichtsverhandlung ein Magistrat eine Frau zum Remaking verurteilt hat. Für ein so erbärmliches, bejammernswertes, trauriges Verbrechen …« Sie verzog das Gesicht. »Diese Frau, sie wohnt ganz oben in einem der Silos von Ketch Heath, hat ihr Kind getötet. Hat es erstickt oder geschüttelt oder Jabber weiß was, weil es nicht aufhören wollte zu schreien. Nun sitzt sie da auf der Armesünderbank, ihre Augen sind einfach – einfach leer; sie kann nicht begreifen, was passiert ist, dauernd flüstert sie den Namen ihres Kindes, und der Magistrat verkündet das Urteil. Gefängnis, natürlich, zehn Jahre, glaube ich, aber es war das Remaking, das ich nie vergessen werde.
    Die Arme ihres toten Kindes sollten ihr ins Gesicht geheftet werden. ›Auf dass sie stets daran erinnert werde, was sie getan hat‹, sagt er.« Derkhans Stimme wurde kalt und selbstgerecht, als sie den Tonfall des Richters nachahmte.
    Schweigend gingen sie weiter und schleckten pflichtbewusst ihre Zuckerwatte.
    »Ich bin Kunstkritikerin«, sagte Derkhan schließlich. »Remaking ist Kunst, musst du wissen. Kranke Kunst. Die Fantasie, die dazugehört! Ich habe Remade unter dem Gewicht von riesigen eisernen Schneckenhäusern einherkriechen sehen, in die sie sich nachts zurückziehen. Andere, mit Tentakeln an Stelle der Arme, standen am Flussufer und versuchten, mit den neuen Gliedmaßen zu fischen. Und erst die, die für die Gladiatorenkämpfe umfunktioniert werden … Natürlich gibt keiner zu, dass es zu diesem Zweck geschieht.
    Remaking ist entartete Kreativität. Missbrauch von Kreativität. Du hast mich einmal gefragt, ob es mir schwer fiele, das Schreiben über Kunst und das Schreiben für das LF in Einklang zu bringen.« Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn an, während sie über die Festwiese schlenderten. »Es ist ein- und dasselbe, Isaac! Kunst ist etwas, das man bewusst erschafft, Interpretation all der Einflüsse, denen du ausgesetzt bist, zu etwas, das dich über das bloße Sein hinaushebt. Dir Tiefe verleiht, oder Komplexität, oder wie man es nennen will. Sogar im Remaking ist eine Spur davon erhalten. Aus dem Grund sind dieselben Leute, die Remade verabscheuen, fasziniert von Jack Gotteshand, ob es ihn gibt oder nicht.
    Ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der Remaking die höchste Kunstform darstellt.«
    Isaac fühlte in seiner Tasche nach dem Lauffeuer. Es war schon gefährlich, ein Exemplar davon in seinem Besitz zu haben. Er tätschelte den Umschlag und verspottete in Gedanken Strack Island und Parlament samt Bürgermeister Rudgutter und die Parteien, die darum stritten, wie sie den Kuchen unter sich aufteilen sollten: Gute Ernte und Drei Federn, Liberale Vielfalt, von Lin Krämerklüngel genannt, die Lügner und Verführer der Durchblick-Partei , die ganze aufgeblasene, missgünstige Bande, die sich aufführte wie Sechsjährige im Sandkasten, nur mit großer Macht ausgestattet.
    Am Ende des mit Bonbonpapier, Plakaten, Eintrittskarten und zertretenen Essensresten, weggeworfenen Puppen und geplatzten Ballons übersäten Wegs stand Lin wartend neben dem Eingangstor. Bei ihrem Anblick trat unwillkürlich ein glückliches Lächeln auf Isaacs Gesicht. Als Lin sie entdeckte, richtete sie sich auf und winkte, dann kam sie ihnen entgegen.
    Isaac sah, dass sie einen kandierten Apfel zwischen den Mandibeln hielt, mit dem ihre Mundwerkzeuge sich genussvoll beschäftigten.
    Wie war’s, mein Schatz?, fragte sie.
    »Scheußlich, widerwärtig, grauenhaft. Ein absoluter Reinfall. Du wirst die ganze traurige Geschichte noch zu hören bekommen.« Er wagte es, kurz ihre Hand zu ergreifen, als sie sich auf den Heimweg machten.
    Die drei kleinen Gestalten verschwanden in den nächtlichen Straßen von Sobek Croix, wo Gaslaternen trübe flackerten, sofern überhaupt vorhanden, während hinter ihnen das kolossale Imbroglio aus Farbe, Metall, Glas, Zucker und Schweiß unaufhörlich seinen Lärm- und Lichtsmog in den Himmel schleuderte.

 
KAPITEL 9
     
     
    Durch die Stadt, durch die verrufenen Gassen und die Hütten von Badside, durch das Netz toter Kanäle, durch Smog Bend und zu den heruntergekommenen Herrenhäusern von Barrackham, den Wohnsilos von Tar Wedge und dem ungastlichen Betonwald von Dog Fenn flog die Botschaft: Jemand zahlt gutes Geld für alles, was Flügel hat.
    Gottgleich

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