Perfect Copy - Die zweite Schöfung
einmal durch die einen Spalt weit offen stehende Schlafzimmertür seine Mutter den Atelierschlüssel in ihre Nachttischschublade hatte legen sehen.
Zumindest nachschauen konnte er ja mal.
Er eilte die Treppe hoch. Die Hand auf der Türklinke zum Schlafzimmer seiner Eltern, zögerte er. Wirklich in Ordnung war das ja nicht, einfach so heimlich, ohne zu fragen… Doch jetzt hatte er schon davon angefangen, und außerdem fand er es wichtig, dass Svenja auch andere als die düsteren Wohnzimmerbilder zu sehen bekam. Er öffnete die Tür.
Das Schlafzimmer roch muffig und kalt. Mit seinen kahlen weißen Wänden und der blütenweißen Bettwäsche wirkte es so gemütlich wie ein Operationssaal. Wolfgang war das letzte Mal mit vier Jahren oder so hier gewesen. Er achtete darauf, keine verräterischen Druckstellen am Bett zu hinterlassen, als er behutsam die Nachttischschublade seiner Mutter aufzog.
Zwei Packungen Papiertaschentücher lagen darin, eine gelbgrüne Tube mit einer Salbe gegen Erkältungen, ein weißer Babyschuh und ein blauer, ein mehrere Jahre alter Gartenmöbelprospekt, ein paar Postkarten, ein abgenagter Bleistiftstummel. Und der Schlüssel, mit seinem wuscheligen Anhänger.
Wolfgang schnappte ihn sich und musste grinsen, als er darunter, größtenteils versteckt unter den anderen Sachen, ein Foto von sich selbst erspähte, auf dem er vielleicht elf, zwölf Jahre alt war und verkniffen grinste. Irgendwie hätte er nicht erwartet, dass Mutter so etwas in ihrer Nachttischschublade aufbewahrte. Er schob sie zu und machte, dass er wieder hinunterkam.
Es roch nach Farbe, als sie die Tür zum Atelier aufschlossen, und nach abgestandener Luft. Die Vorhänge vor den großen Terassenfenstern waren zugezogen, der Raum in Halbdunkel getaucht. Zwei Tische lagen voller trocknender Bilder. Farbkästen, Mappen aus grauem Karton, Aquarellblöcke und leere Bilderrahmen füllten die Fächer eines Wandregals. In ehemaligen Gurken- und Marmeladengläsern, die überall herumstanden, trocknete grau gefärbtes Malwasser vor sich hin. Eine einzige Sitzgelegenheit gab es, einen hölzernen Drehschemel, am Fenster vor der Staffelei.
Sie gingen zwischen den Tischen umher, sahen sich die Bilder an, die, gerahmt oder ungerahmt, an der Wand hingen, und passten auf, nirgends anzustoßen und nichts zu berühren. Wolfgang hielt Ausschau nach den freundlicheren, lichten Bildern, die er Svenja versprochen hatte und an die er sich aus seinen Kindertagen noch zu erinnern glaubte. Doch da waren nur grausige, missgestaltete menschliche Leiber in schmutzigem Braun und Rot, bizarre Sturmwolken und Engelsgestalten mit Teufelsfratzen.
Vielleicht war Frau Krämer mit ihrer Ordnungswut doch nicht der Grund, warum Mutter das Atelier verschlossen hielt.
»Ich versteh davon echt nichts«, sagte Svenja schließlich.
»Früher hat sie wirklich auch andere Sachen gemalt«, meinte Wolfgang. »So was wie das große Bild draußen neben der Garderobe.«
Svenja hüstelte. »Na, das ist ja mal richtig hässlich. Sorry.«
Wolfgang sah hilflos umher. Er war selber überrascht, nein, regelrecht beunruhigt. Mutter wirkte immer so ruhig und ausgeglichen, aber wenn er das hier so sah, schien es ihm, dass sie auch Seiten hatte, die sie niemandem zeigte. »Sollen wir wieder gehen?«, fragte er.
»Au ja«, nickte Svenja. »Eigentlich würden mich deine achtundzwanzig Seiten sowieso viel mehr interessieren.«
»Ehrlich?«
»Klar.« Sie grinste. »Vielleicht find ich ja den Fehler.«
Während er die Tür zum Atelier wieder zuschloss, wie sie gewesen war, meinte er: »Ich kann sie mal holen. Aber es ist eine ziemliche Sauklaue, das sag ich dir gleich.« Er steckte den Schlüssel in die Tasche. »Ich räum bei der Gelegenheit auch schnell das Cello weg.«
Svenja folgte ihm ins Wohnzimmer. »Ich helf dir hochtragen.« Sie griff nach den Noten und dem Ständer, hielt in der Bewegung inne und fragte: »Da kann ich nichts kaputtmachen, oder?«
»Nein. Jedenfalls nicht aus Versehen.«
So kam es schließlich doch, dass sie nach oben in Wol f gangs Zimmer gingen. Während Wolfgang die Treppe hinau f stieg und hinter ihm Svenja mit dem Notenständer und den Noten in der Hand und er ihren Atem und ihre Schritte hörte, durchzuckten ihn bange Fragen wie Blitze eine Gewitternacht. Was war denn nun? Was hieß das eigentlich, dass sie geko m men war? War das nur eine freundliche Geste, nach dem Motto, seid nett zu dem Behinderten, zu dem Monstrum, zu der Missgeburt ? In
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