Perfekt! Der überlegene Weg zum Erfolg (German Edition)
diese Probleme nur bei ihr selbst liegen konnte. Schon seit Jahren wusste sie, dass sie immer wieder Dinge tat, mit denen sie bei anderen Menschen aneckte, und dass sie daher oft gemieden wurde. In der Vergangenheit hatte sie versucht, diese schmerzhafte Tatsache einfach zu ignorieren, aber jetzt bedrohten ihre sozialen Defizite ihren Lebensunterhalt.
Seit Kindertagen hatte Grandin die besondere Fähigkeit, sich selbst von außen zu betrachten, als würde sie eine fremde Person beobachten. Damals war es mehr wie ein Gefühl, das kam und ging. Als Erwachsene hatte sie gelernt, diese Gabe gezielt zu nutzen, indem sie beispielsweise ihre alten Fehler so analysierte, als ob jemand anderer sie gemacht hätte.
Im Fall des Mannes, der die Geräte sabotiert hatte, konnte sie nachvollziehen, dass sie sich damals kaum mit ihm und den anderen Ingenieuren beraten hatte. Sie war immer darauf bedacht gewesen, alles alleine zu machen. In Gedanken sah sie sich selbst, wie sie in den Besprechungen ihre Ideen mit einer rigorosen Logik präsentierte, ohne sie zur Diskussion zu stellen. In der Sache mit dem Brief an den Vorstand erinnerte sie sich genau daran, wie sie ihre Kollegen vor anderen ganz offen kritisiert hatte. Sie hatte nie versucht, über die Schwierigkeiten zuerst mit dem Mann zu sprechen, der sie eingestellt hatte. Indem sie sich diese Situationen wieder klar vor Augen führte, konnte sie im Nachhinein begreifen, wo das Problem lag: Ihre Mitarbeiter fühlten sich in ihrer Gegenwart unsicher, nutzlos und minderwertig. Sie hatte ihre männlichen Egos verletzt und musste dafür bezahlen.
Temple Grandin gelangte zu dieser Erkenntnis nicht durch Empathie, wie es wohl bei den meisten Menschen der Fall wäre. Für die Autistin war das Ganze vielmehr eine intellektuelle Übung ähnlich einem Puzzle oder der Lösung eines konzeptionellen Problems. Da sie emotional kaum involviert war, fiel es ihr auch nicht schwer, den gesamten Prozess objektiv nachzuvollziehen und dann beim nächsten Mal die entsprechenden Änderungen vorzunehmen. In Zukunft würde sie ihre Ideen mit den Ingenieuren besprechen, sie so weit wie möglich in ihre Arbeit mit einbeziehen und niemanden mehr direkt kritisieren. Dieses Verhalten trainierte sie während der nachfolgenden Aufträge so lange, bis es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war.
Indem Temple sich auf ihre ganz spezielle Art langsam immer mehr soziale Kompetenzaneignete, konnte sie ihre Unbeholfenheit im Umgang mit Menschen weitgehend ausgleichen und hatte in ihrem Beruf immer mehr Erfolg. In den 1990er Jahren war sie schon so berühmt, dass man sie immer wieder bat, Vorträge zu halten: anfangs über ihre Erfahrungen als berufstätige Autistin und später dann auch als Expertin für Tierverhalten.
Während der Vorträge hatte sie den Eindruck, dass alles ganz gut lief. Sie waren vollgestopft mit Informationen und den passenden Dias, die ihre Ideen illustrierten. Nach einigen Vorträgen gab man ihr Rückmeldungen aus dem Publikum zu lesen, die sie schockierten. Die Leute beschwerten sich, sie suche keinen Blickkontakt, lese ihre Reden mechanisch ab und ignoriere das Publikum auf schon fast unhöfliche Weise. Die Zuhörer hatten den Eindruck, sie würde immer wieder denselben Vortrag mit denselben Dias halten, als wäre sie eine Maschine.
Seltsamerweise störte Temple diese Kritik nicht im Geringsten. Sie fand die Idee mit den Rückmeldungen sogar spannend. Auf diese Weise erhielt sie ein klares und realistisches Bild davon, wie andere Menschen sie sahen. Viel mehr hatte sie noch nie benötigt, um sich zu verbessern. Wieder setzte sie mit großem Eifer ihre eigene Methode der Selbstkorrektur ein, fest entschlossen, eine qualifizierte Rednerin zu werden. Nachdem sie genügend Rückmeldungen erhalten hatte, ging sie diese systematisch durch, um die Gemeinsamkeiten und sinnvolle Kritik herauszufiltern. Mit diesem Feedback als Grundlage lernte sie, Anekdoten und sogar Witze einzubauen und so ihre Diavorträge entscheidend aufzulockern. Sie kürzte, übte, ohne Notizen frei zu sprechen, und beantwortete am Ende jede Publikumsfrage. Hatte jemand einen ihrer ersten Vorträge gehört und sah sie dann ein paar Jahre später noch einmal, konnte er kaum glauben, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Sie war zu einer unterhaltsamen, lebhaften Rednerin geworden, die die Aufmerksamkeit des Publikums länger fesselte als die meisten anderen. Niemand konnte so recht verstehen, wie sie das
Weitere Kostenlose Bücher