Perfekt! Der überlegene Weg zum Erfolg (German Edition)
Verrocchios Taufe Christi malte Leonardo einen der beiden Engel an der linken Seite des Bildes, und das Werk ist heute das älteste noch existierende Beispiel für Leonardos Malerei. Verrocchio staunte beim Anblick von Leonardos Arbeit. Das Gesicht des Engels hatte eine Qualität, die er nie zuvor gesehen hatte – es schien von innen her zu leuchten. Der Gesichtsausdruck des Engels war unglaublich realistisch und ausdrucksstark.
Für Verrocchio mag es wie Magie erschienen sein, aber eine moderne Röntgenuntersuchung enthüllte einige Geheimnisse von Leonardos früher Maltechnik. Er trug außergewöhnlich dünne Farbschichten auf, sodass man die einzelnen Pinselstriche erkennt. Dann trug er weitere Schichten auf, jede minimal dunkler als die vorhergehende. Mit dieser Maltechnik und durch Experimente mit verschiedenen Pigmenten hatte er sich selbst beigebracht, wie er die feinen Konturen menschlicher Körper einfangen konnte. Weil die Farbschichten so dünn waren, schien alles Licht auf dem Gemälde durch das Gesicht des Engels zu dringen und es von innen zu erleuchten.
In den sechs Jahren, die Leonardo in der Werkstatt gearbeitete hatte, hatte er sich offensichtlich eingehend mit den unterschiedlichen Farben beschäftigt und eine Schichttechnik perfektioniert, durch die alles zerbrechlich und lebensecht wirkte und die den Eindruck von Textur und Tiefe erweckte. Er muss auch viel Zeit mit dem Studium der Zusammensetzung menschlicher Körper verbracht haben. Dies beweist die unglaubliche Geduld Leonardos, der solche detaillierten Arbeiten sehr geliebt haben muss.
Leonardo verließ schließlich Verrocchios Werkstatt und machte sich selbst einen Namen als Künstler. Mit der Zeit entwickelte er eine Philosophie, die seine künstlerische Arbeit und später auch seine wissenschaftlichen Arbeiten bestimmte. Ihm war aufgefallen, dass andere Künstler in der Regel mit einem Gesamtbild begannen, das sie darstellen wollten, und das eine verblüffende oder spirituelle Wirkung haben sollte. Er ging anders vor. Er konzentrierte sich von Anfang an auf Details – verschiedene Nasenformen, wie die Form des Mundes eine bestimmte Stimmung ausdrückte, die Adern in einer Hand, die verschlungenen Muster an den Bäumen. Diese Details faszinierten ihn. Er glaubte, dass er sich durch Konzentration auf und Verständnis für diese Details dem Geheimnis des Leben selbst annäherte, dem Werk des Schöpfers, von dessen Gegenwart jedes Lebewesen und jede Materie durchdrungen war. Die Knochen einer Hand oder die Umrisse menschlicher Lippen inspirierten ihn genauso wie ein religiöses Bild. Für Leonardo war die Malerei die Suche nach der Lebenskraft, die in allen Lebewesen wirkt. Er glaubte, er könne so besonders emotionale und intuitive Kunstwerke erschaffen. Für seine Suche entwickelte er eine Reihe von Übungen, die er mit viel Disziplin durchführte.
Tagsüber unternahm er lange Spaziergänge durch die Stadt und aufs Land. Seine Augen nahmen dabei alle Einzelheiten der sichtbaren Welt auf. Er zwang sich dazu, in jedem vertrauten Ding, das er sah, etwas Neues zu entdecken. Abends, bevor er schlafen ging, ließ er alle Dinge und Details noch einmal Revue passieren und prägte sie sich ein. Er war besessen von der Idee, die Essenz des menschlichen Gesichtes mit all seiner Vielfalt einzufangen. Zu diesem Zweck besuchte er alle denkbaren Orte, an denen er unterschiedliche Menschentypen antreffen konnte – Bordelle, Kneipen, Gefängnisse, Krankenhäuser, Gebetsecken in Kirchen, Bauernfeste. Er hatte sein Notizbuch immer zur Hand und zeichnete Grimassen ziehende, lachende, schmerzverzerrte, glückselige, lüsterne Ausdrücke auf vielen unterschiedlichen Gesichtern. Er folgte Menschen auf der Straße, die einen Gesichtstyp hatten, den er noch nie gesehen hatte, oder irgendwie missgestaltet waren, und zeichnete sie im Gehen. Auf einem einzelnen Stück Papier zeichnete er Dutzende verschiedene Nasen im Profil. Ihn interessierten vor allem Lippen, die er genauso ausdrucksvoll fand wie Augen. Er wiederholte all diese Übungen mehrmals täglich, um sicher zu gehen, dass er die verschiedenen Effekte von wechselndem Licht auf das menschliche Gesicht einfangen konnte.
Bei seinem großartigen Gemälde Das Abendmahl verärgerte Leonardo seinen Mäzen, den Herzog von Mailand, weil er so lange für die Fertigstellung brauchte. Er musste wohl nur noch das Gesicht des Judas malen, aber Leonardo fand kein passendes Modell. Er suchte die schlimmsten Ecken
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