Perfekt
Wohnzimmer und lief dann unruhig davor auf und ab, immer wieder auf die Uhr blickend, ob die Stunde nicht endlich um sei. Da Katherine alles, was Julie gesagt hatte, so ruhig und ohne weitere Fragen aufgenommen hatte, traf Julie die Reaktion auf ihren zweiten Anruf völlig unerwartet. Ihr Vater, der normalerweise für seine stoische Ruhe bekannt war, hob beim ersten Läuten das Telefon bei Cahills ab. »Ja? Wer ist da?«
»Hier ist Julie, Dad«, sagte sie und hielt den Hörer fest umklammert. »Es geht mir gut. Ich bin ...«
»Gott sei Dank!« sagte er mit vor Rührung heiserer Stimme, dann rief er: »Mary, es ist Julie, und es geht ihr gut! Ted, Carl - Julie ist am Telefon, sie sagt, sie ist okay. Julie, wir haben getan, was du gesagt hast, und dem FBI nichts erzählt.«
Julie hörte, wie an mehreren Nebenapparaten die Hörer abgehoben wurden und vernahm ein aufgeregtes Stimmengewirr, das von Teds Stimme übertönt wurde, einer ruhigen, autoritären Stimme: »Seid alle mal ruhig«, befahl er. »Julie, bist du allein? Kannst du reden?« Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Dieser Schüler von dir, der mit der tiefen Stimme - Joe Bob Artis -, er macht sich schreckliche Sorgen um dich.«
Für einen Sekundenbruchteil wußte Julie nicht, was es bedeuten sollte, daß er einen Namen nannte, den sie noch nie gehört hatte, doch dann wurde ihr klar, daß er absichtlich einen falschen Namen sagte, und sie lachte nervös. »Du meinst >Willie<«, korrigierte sie ihn. »Und ich bin wirklich allein. Im Augenblick jedenfalls.«
»Gott sei Dank! Wo bist du, Liebes?«
Julie öffnete den Mund, doch es kam kein einziger Ton heraus. Zum ersten Mal, seit sie bei den Mathisons lebte, würde sie sie anlügen, und obwohl sie den denkbar besten Grund dafür hatte, schämte sie sich und kam sich sehr elend vor. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie ausweichend. »Es -es ist kalt hier«, fügte sie lahm hinzu.
»Welcher Bundesstaat ist es? Oder bist du in Kanada?«
»Das - das kann ich nicht sagen.«
»Benedict ist bei dir, nicht wahr!« schrie Ted, und die Wut, die er sich zu unterdrücken bemühte, brach deutlich hervor. »Deswegen kannst du nicht sagen, wo du bist. Hol mir den Mistkerl ans Telefon, Julie! Ich will sofort mit ihm reden.«
»Das geht nicht! Hört alle zu. Ich kann nicht lange reden, aber ich möchte, daß ihr mir glaubt, wenn ich euch sage, daß ich in keinster Weise schlecht behandelt werde. Ted«, sagte sie, sich an den einzigen wendend, der sich mit Gesetzen auskannte und, hoffentlich, auch’ wußte, daß Justizirrtümer immer wieder vorkamen, »er hat niemanden umgebracht. Ich weiß es. Die Geschworenen haben einen Fehler gemacht, und deshalb kannst du - können wir - ihm nicht verübeln, daß er versucht hat zu fliehen.«
»Einen Fehler!« Ted war außer sich. »Julie, laß dir doch keinen solchen Unsinn einreden! Glaub das bloß nicht! Er ist ein überführter Mörder, und er ist ein Kidnapper! «
»Nein! Er hat nicht vorgehabt, mich zu entführen. Er wollte nur ein Auto, weißt du, um von Amarillo wegzukommen, und er hat mir den Reifen gewechselt, weil ich einen Platten hatte, deshalb habe ich ihm angeboten, ihn mitzunehmen. Er hätte mich auch gehen lassen, wenn ich nicht seine Landkarte gesehen hätte ...«
»Was für eine Landkarte hast du gesehen, Julie? Von welchem Bundesstaat? Von welcher Region?«
»Ich muß jetzt Schluß machen«, sagte sie verzweifelt.
»Julie!« unterbrach die Stimme von Reverend Mathison. »Wann kommst du heim?«
»Sobald er mich wegläßt, nein - sobald ich kann. Ich - ich muß jetzt wirklich aufhören. Versprecht mir, daß ihr niemandem von diesem Anruf erzählt.«
»Wir versprechen es, und wir lieben dich, Julie«, sagte Reverend Mathison voll Vertrauen. »Die ganze Stadt betet für dich.«
»Dad«, sagte sie, bevor sie sich beherrschen konnte, »würdest du sie bitten, auch für ihn zu beten?«
»Du hast den Verstand verloren!« tobte Ted. »Der Mann ist ein überführter ...« Julie hörte den Rest seines Satzes nicht mehr. Sie legte bereits den Hörer zurück auf die Gabel und blinzelte, weil ihr Tränen in den Augen standen. Mit dieser Bitte, für ihren Entführer zu beten, hatte sie ihre Familie unbeabsichtigt dazu gebracht zu glauben, sie sei entweder Zachary Benedicts Lügen aufgesessen oder aber seine Komplizin. Und das eine wie das andere stand in krassem Gegensatz zu all ihren moralischen Grundsätzen. Die aufkommende Depression abschüttelnd,
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