Perfekt
ihm alleine auszugehen.
Julie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, als sie jetzt ihre korrekte Vergangenheit mit der chaotischen Gegenwart und ihrer unsicheren Zukunft verglich. In all den Jahren war sie niemals vom Pfad der Tugend abgewichen, weil sie nicht wollte, daß ihre Familie oder irgend jemand in Keaton etwas Schlechtes von ihr dachte. Jetzt jedoch, da sie soweit war, diesen schmalen Pfad zu verlassen, gab sie sich nicht mit kleineren Verstößen gegen die gesellschaftlichen Regeln und die Kleinstadtmoral zufrieden, die höchstwahrscheinlich nur zu gutwilligem Klatsch in Keaton geführt hätten. Nein, nicht sie, dachte Julie spöttisch. Was sie vorhatte, verstieß nicht nur gegen die guten Sitten, sondern vermutlich sogar gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika, und darüber hinaus würde die gesamte Presse Tratsch der schlimmsten Sorte über sie verbreiten - wie es ansatzweise ja bereits der Fall war.
Ihr Galgenhumor verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war, und Julie blickte düster auf ihre Hände. Als die Mathisons sie seinerzeit aufgenommen hatten, war sie entschlossen gewesen, gewisse »Opfer« zu bringen, wozu auch ihre Entscheidung gehörte, Lehrerin zu werden, anstatt eine andere, besser bezahlte und interessantere Karriere zu verfolgen. Doch irgendwie hatte jedes Opfer ihr so viele Freuden beschert und sie derart bereichert, daß sie immer das Gefühl gehabt hatte, viel mehr zu bekommen, als sie selbst gab.
Jetzt allerdings hatte sie das sichere Gefühl, daß das Schicksal seinen Tribut für ein Leben voll unverdienter Freuden verlangte. Zachary Benedict war des kaltblütigen Mordes ebenso unschuldig wie sie, und sie wurde das Gefühl nicht los, daß es ihre Aufgabe war, in dieser Angelegenheit etwas zu unternehmen.
Sie drehte sich auf die Seite, legte ihren Kopf auf die Dekokissen und beobachtete das Spiel der Flammen im Kamin. Bevor nicht der wahre Mörder gefaßt war, würde kein Mensch, nicht einmal ihre Eltern, in der Lage sein, ihre Handlungsweise zu verstehen. War ihre Familie aber erst einmal davon überzeugt, daß Zack unschuldig war, würden sie natürlich alles, was sie bisher getan hatte und was sie von jetzt an tun würde, hundertprozentig gutheißen. Nun ja, vielleicht nicht alles. Sie würden es nicht gutheißen, daß sie sich so rasch in ihn verliebt hatte, sofern das, was sie für ihn empfand, tatsächlich Liebe war, und sie würden es ganz bestimmt nicht gutheißen, daß sie mit ihm schlief. Doch dann erkannte Julie in einer Mischung aus ruhiger Gelassenheit und nervöser Vorfreude, daß es nicht mehr in ihrer Macht stand, ob sie ihn liebte oder nicht; daß sie mit ihm schlafen würde, war eine unumstößliche Tatsache, es sei denn, sein Wunsch hatte sich seit gestern abend drastisch verändert. Obwohl sie natürlich hoffte, daß er ihr ein paar Tage mehr Zeit geben würde, damit sie ihn besser kennenlernen konnte.
Abgesehen davon blieb ihr nur übrig zu versuchen, ihr Herz vor unnötigem Schmerz zu bewahren und nichts zu tun oder zu sagen, was sie ihm gegenüber noch verwundbarer machte, als sie es bereits war. Sie war schließlich nicht dumm. Bevor man Zachary Benedict ins Gefängnis gesteckt hatte, war er in einer elitären Welt des Luxus zu Hause gewesen, die mit glamourösen, eleganten Menschen bevölkert war, deren lose Moralvorstellungen weit über Hollywood hinaus bekannt waren. Sie hatte genug über ihn gelesen, um zu wissen, daß der Mann, mit dem sie hier in der Abgeschiedenheit der Berge allein war, einst sagenhafte Villen und Landsitze besessen hatte, wo er verschwenderische Partys gab, zu denen nicht nur berühmte Filmstars kamen, sondern auch bedeutende Finanzmagnaten, Angehörige europäischer Adelshäuser und sogar der Präsident der Vereinigten Staaten.
Er war mit Sicherheit kein ruhiger, freundlicher Hilfspfarrer einer Kleinstadtgemeinde.
Verglichen mit ihm, das wußte Julie, war sie so naiv und unschuldig wie das sprichwörtliche neugeborene Baby.
30
Zweiundzwanzig Uhr war vorbei, als sie, ein Kissen eng an die Brust gepreßt, aus dem Schlaf hochschreckte. Eine leise Bewegung zu ihrer Linken weckte ihre Aufmerksamkeit, und Julie drehte ihren Kopf im selben Moment, in dem eine amüsiert klingende männliche Stimme bemerkte: »Eine Krankenschwester, die ihren Patienten alleine läßt und während des Dienstes einschläft, hat keinen Anspruch auf volle Bezahlung.«
Julies »Patient« stand, mit der Schulter lässig an den
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