Perfekt
schmerzende Stirn und wankte auf unsicheren Beinen aus ihrem Schlafzimmer Richtung Küche, wo sie unter der Tür jedoch abrupt stehenblieb und mit blinzelnden Augen ungläubig auf das Bild starrte, das sich ihr dort bot: Ted und Katherine standen eng umschlungen neben dem Spülbecken, und ihre Umarmung wirkte ausgesprochen leidenschaftlich. Da Julies Kopf sich augenblicklich noch in einem Zustand seltsamer Verwirrtheit befand, lächelte sie beim Anblick dieser harmonisch-idyllischen Szene. »Der Wasserhahn läuft«, sagte sie, und ihre trockene, krächzende Stimme überraschte sie alle drei.
Ted hob seinen Kopf und grinste sie an, Katherine aber fuhr zusammen, als habe man sie bei etwas Schlimmem ertappt, und befreite sich rasch aus seinen Armen. »Julie, es tut mir leid!« platzte sie heraus.
»Was tut dir leid?« erkundigte sich Julie, während sie zum Schrank hinüberging und ein Glas herausnahm, das sie mit Wasser füllte. Gierig trank sie es in einem Zug aus.
»Daß du uns so gesehen hast.«
»Warum?« fragte Julie und hielt das Glas unter den Wasserhahn, um es erneut zu füllen, aber ihr Kopf begann bereits wieder klarer zu werden, und die ersten Erinnerungen wurden wach.
»Weil«, brachte Katherine zögernd und verlegen heraus, »weil wir das nicht vor deinen Augen tun sollten. Eigentlich möchten wir dir doch helfen, über das hinwegzukommen, was in Mexiko passiert ...«, sie brach entsetzt ab, als das Glas aus Julies Hand glitt und auf dem Boden zerbarst.
»Nein!« stieß Julie hervor und stützte sich mit den Händen auf die Küchentheke, um die plötzlich wachwerdende entsetzliche Erinnerung daran zu verbannen, wie Zack sie angesehen hatte, kurz bevor die mexikanische Polizei anfing, ihn zusammenzuschlagen. Schaudernd preßte sie die Augen fest zusammen, als ob sie dieses Bild dadurch verdrängen könnte. Dann, gut eine Minute später, brachte sie es fertig, sich zusammenzureißen, und drehte sich um. »Sprecht nie wieder darüber«, sagte sie. »Es geht mir gut«, fügte sie mit mehr Entschlossenheit hinzu, als es der Wahrheit entsprach. »Es ist vorbei. Ich komme schon in Ordnung, wenn ihr nur nicht darüber redet. Ich muß telefonieren«, fuhr sie fort, einen Blick auf die Küchenuhr werfend, und ohne zu merken, daß sie selber das genaue Gegenteil von dem tat, worum sie die beiden eben gebeten hatte, hob Julie den Hörer ab, wählte die Nummer von Paul Richardsons Büro und nannte seiner Sekretärin ihren Namen.
Der letzte Gefühlsausbruch hatte sie nervlich erschöpft und ein Gefühl der Leere und Angst hinterlassen. Sie merkte, daß sie sich am Rande eines Nervenkollapses befand; ihre Hände zitterten unkontrollierbar. Das mußte ein Ende haben. Jetzt gleich. Sofort. Auf der Stelle. Entweder würde sie sich Tranquilizer verschreiben lassen und langsam, aber sicher verblöden, oder aber sie schaffte es, sich wieder in den Griff zu bekommen, der Zukunft nüchtern und gefaßt ins Auge zu sehen und ihr Leben irgendwie weiterzuführen. Die Zeit würde den Rest erledigen. Keine Tränen mehr, gelobte sie sich. Keine Gefühlsausbrüche mehr. Kein Selbstmitleid mehr. Es gab Menschen, die auf sie angewiesen waren, die sie brauchten - ihre Schüler und die Frauen, denen sie abends das Lesen und Schreiben beibrachte. Sie vor allem sahen zu ihr auf, und sie mußte ihnen zeigen, daß sie mit allen Widrigkeiten fertig werden konnte.
Ihr Unterricht, ihr Behinderten-Team ... Sie mußte sich beschäftigen und dafür sorgen, daß ihr keine Zeit zum Nachdenken blieb. Nein, sie durfte nicht nachgeben.
»Paul«, sagte sie, und ihre Stimme bebte nur noch ein klein wenig, als er endlich am Apparat war, »ich muß mit ihm sprechen. Ich muß ihm erklären ...«
Seine Stimme klang mitfühlend, freundlich und endgültig: »Das wird zur Zeit nicht möglich sein. Er darf in Amarillo eine ganze Weile keinen Besuch bekommen.«
»In Amarillo? Sie haben mir doch versprochen, daß er in ein Krankenhaus eingewiesen würde, wo man seinen Geisteszustand untersuchen und ihn behandeln könnte!«
»Ich habe gesagt, daß ich versuchen würde, das zu erreichen, und das werde ich auch, aber solche Dinge brauchen Zeit, und ...«
»Fangen Sie mir nicht damit an«, warnte sie, behielt aber die Fassung. »Dieser Gefängnisdirektor ist ein Sadist, ein mieser kleiner Sadist, das haben Sie in Mexiko doch selber gesehen. Er wird Zack quälen, bis ...«
»Hadley wird ihm keinen Finger krümmen«, unterbrach Paul sie sanft, »soviel
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