Perfekt
Worte überschlugen sich fast, als sie sich verzweifelt zu rechtfertigen versuchte: »Sie können das doch nicht wirklich annehmen. Bitte, bitte, glauben Sie mir. Nachdem Sie hier waren, habe ich Zacks Großmutter besucht, und sie hat mir erzählt, wie Zacks Bruder gestorben ist. Meredith, Zack hat ihn erschossen! Drei Menschen, die ihn verärgert haben, sind tot! Ich konnte doch nicht zulassen, daß noch mehr Menschen verletzt werden, das müssen Sie mir bitte glauben ...«
Viele hundert Meilen entfernt, lehnte Meredith sich in ihrem Stuhl zurück, massierte sich die Schläfen und erinnerte sich an die Liebe, die aus Julies Augen gestrahlt hatte. »Ich -ich glaube Ihnen«, sagte sie schließlich. »An dem Abend, an dem Matt und ich bei Ihnen waren, da können Sie nicht geschauspielert haben. Das war echt. Sie haben ihn sehr geliebt, und ihm eine Falle zu stellen war das Letzte, was Sie planten.«
»Danke«, flüsterte Julie nur. »Danke. Bye.«
»Geht es Ihnen gut?« fragte Meredith.
»Ich weiß nicht mehr, wie man sich fühlt, wenn es einem gutgeht«, antwortete Julie mit gebrochener Stimme; aber dann schüttelte sie ihr Selbstmitleid ab und sagte höflich: »Es wird schon gehen. Ich komme schon zurecht.«
64
Die folgenden Wochen kam Julie insofern zurecht, als sie Fernsehen und Radio vollkommen ignorierte und sich kopfüber in die Arbeit stürzte. Neben der normalen Lehrerinnentätigkeit und ihren Aufgaben als Coach des Football- und Softballteams engagierte sie sich bei zahllosen Wohltätigkeitsveranstaltungen und blieb regelmäßig so lange auf den Beinen, bis sie abends todmüde und körperlich völlig erschöpft ins Bett fiel. Sie übernahm freiwillig die Hausaufgabenüberwachung in der Schule, stellte sich als Organisatorin eines Kirchenbazars zur Verfügung und akzeptierte, daß man sie zur Leiterin der Keatoner Zweihundertjahrfeier ernannte, die in der letzten Maiwoche stattfinden und alle möglichen Feierlichkeiten umfassen sollte - ein Tanzfest im Park ebenso wie einen Festzug, Feuerwerk und einen großen Ball. Ganz Keaton kannte den Grund für Julies Beschäftigungseifer, aber mit der Zeit ließen die verstohlenen, mitleidigen Blicke nach. Niemand war jemals dumm oder herzlos genug, ihr zu ihrer tapferen Tat zu gratulieren, denn jeder wußte, daß sie den Mann, den die Polizei nur dank ihrer Hilfe fassen konnte, offensichtlich geliebt hatte.
Tage wurden zu Wochen, die Zeit verging in hektischer Betriebsamkeit, und langsam, ganz allmählich begann Julie, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Es gab Tage, an denen tatsächlich vier, fünf Stunden vergingen, ohne daß sie an Zack dachte. Es kamen Abende, an denen sie vor dem Einschlafen nicht seinen Brief zur Hand nahm, und es kamen Morgen, an denen sie nicht vor Sonnenaufgang erwachte, mit tränenleeren Augen an die Decke starrte und in der Erinnerung all die schönen und schmerzlichen Dinge durchlebte, die ihre Liebe begleitet hatten.
Paul verbrachte jedes Wochenende in Keaton. Anfangs wohnte er im einzigen Motel am Ort und später dann, auf Einladung von Julies Eltern hin, in deren Haus. Die ganze Stadt sprach darüber, daß der FBI-Agent, der nach Keaton gekommen war, um Julie Mathison zu verhaften, sich statt dessen in sie verliebt hatte. Nur Julie wies diese Möglichkeit weit von sich. Sie wollte es nicht wahrhaben, weil es bedeutet hätte, ihm sagen zu müssen, daß er nur seine Zeit verschwende. Zwar mochte sie ihn gern und wollte ihn nicht verlieren. Ja, sie hatte regelrecht Angst, ihn zu verlieren, denn Paul war der einzige, der sie zum Lachen bringen konnte. Und er erinnerte sie an Zack. So gingen sie also regelmäßig zusammen mit Ted und Katherine aus, und danach brachte er sie zur Haustür und verabschiedete sich mit einem Gute-Nacht-Kuß von ihr, der von Mal zu Mal leidenschaftlicher wurde. Aber eben nur von seiner Seite aus.
Es war während seines sechsten Wochenendes in Keaton, daß seine Geduld und Selbstbeherrschung allmählich nachzulassen begannen. Sie waren mit Ted und Katherine im Kino gewesen, und Julie hatte alle drei anschließend noch zu sich auf einen Kaffee eingeladen. Nachdem Ted und Katherine gegangen waren, hatte Paul ihre Hände genommen und sie vom Sofa hochgezogen.
»Es war ein wunderschönes Wochenende«, sagte er und fügte scherzend hinzu, »obwohl ich mit einem Haufen behinderter Kinder, die mich bald zum Wahnsinn gebracht haben, Football spielen mußte.«
Sie lächelte, und er sah sie zärtlich an.
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