Perfekt
wichtig sein, was Sie dort zu tun haben.«
Anstatt diese schlecht verhüllte Frage nach dem Zweck ihrer Fahrt zu beantworten, schob Julie den Ärmel ihres Sweatshirts hoch, blickte auf ihre Armbanduhr und rief, plötzlich sehr in Eile: »Du meine Güte! Es ist schon halb fünf. Ich muß mich schicken, wenn ich daheim noch duschen und rechtzeitig zu meinem Sechs-Uhr-Unterricht wieder hiersein will.«
Als Julie das Schulgebäude verließ, wartete Willie Jenkins schon neben ihrem Auto. Er hatte seine schmale Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt. »Ich habe gehört, wie Sie und Mr. Duncan darüber gesprochen haben, daß Sie nach Amarillo fahren«, verkündete er mit einer rauhen Stimme, die eher zu einem erwachsenen Mann mit Halsentzündung gepaßt hätte. »Und ich wollte wissen, Miß Mathison ..., ich meine, darf ich nun beim Krippenspiel mitsingen oder nicht?« Julie unterdrückte eine Lächeln. Wie seine älteren Brüder beherrschte Willie fast alle Sportarten und wurde fast immer als erster für jedes Team gewählt. Er war das beliebteste Kind der unteren Klassen, und deshalb kam es ihn besonders hart an, daß er immer der letzte war, wenn es an irgend etwas ging, das mit Musik zu tun hatte. Willie hatte aus dem einfachen Grund noch nie irgendwo mitsingen dürfen, weil er, sobald er den Mund zum Singen aufmachte, Töne von sich gab, die alle Zuschauer zum Kichern brachten.
»Das ist nicht meine Entscheidung, Willie« sagte Julie und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz ihres alten Ford. »Ich bin dieses Jahr nicht für das Krippenspiel verantwortlich.«
Er grinste sie an, spitzbübisch und mit einem Ausdruck, der demonstrierte, daß er genau wußte, daß sie eine Schwäche für ihn hatte. Und das stimmte auch. Julie liebte ihn für seinen Mut, seine Einsatzbereitschaft und vor allem für seine Freundschaft zu einem behinderten Jungen in ihrer Klasse, der Johnny Everett hieß. »Aber«, krächzte er, »wenn Sie dafür verantwortlich wären, würden Sie mich dann singen lassen?«
»Willie«, sagte Julie lächelnd, während sie den Wagen an-ließ, »sobald ich entscheiden darf, wer singt, wirst du singen.«
»Versprochen?«
Julie nickte. »Warum kommst du nicht mal in die Kirche? Dann beweise ich es dir. Ich lasse dich im Kinderchor singen.«
»Meine Eltern haben's nicht so mit dem Predigen.«
»Nun, da haben wir's - ein echtes Dilemma«, sagte Julie, während sie ihren Wagen langsam rückwärts aus ihrer Parklücke auf dem Lehrerparkplatz hinausmanövrierte. Sie sprach mit ihm durch das heruntergekurbelte Fenster.
»Was ist ein De-lemma?«
Sie griff mit der Hand durch das Fenster und zerzauste ihm das Haar. »Schlag's im Wörterbuch nach.«
Die Fahrt zu ihrem Haus führte durch das »Stadtzentrum« von Keaton, vier Blocks mit Geschäftshäusern und Bürogebäuden, die sich um einen stattlichen alten Landgerichtshof gruppierten. Das erstemal war sie als Kind nach Keaton gekommen, und da war ihr die kleine texanische Stadt ohne Boulevards und Wolkenkratzer - und ohne Slums - sehr seltsam und fremd erschienen, aber es hatte nicht lange gedauert, bis sie die ruhigen Straßen und die freundliche Atmosphäre lieben lernte. In den letzten fünfzehn Jahren hatte sich nicht allzuviel verändert. Keaton war zum Großteil immer noch so, wie es immer gewesen war - malerisch und idyllisch, mit einem hübschen weißen Pavillon im Stadtpark und den kopfsteingepflasterten Straßen mit gepflegten Wohnhäusern zu beiden Seiten. Zwar war die Bevölkerung von 3000 auf 5000 Einwohner angewachsen, doch hatten sich die neu Zugezogenen dem hiesigen Lebensstil angepaßt, so daß das Städtchen seinen eigenen Charme behielt. Noch immer gingen die meisten Einwohner sonntags zur Kirche, noch immer trafen sich die Männer am ersten Freitag jeden Monats im Elk's Club, und noch immer ließ man keine Gelegenheit aus, Feiertage auf die althergebrachte traditionelle Art und Weise zu begehen: Im Musikpavillon, der bei solchen Anlässen festlich in den amerikanischen Nationalfarben rot, weiß und blau geschmückt war, spielte die Keaton Municipal Band, und rundherum, auf dem grasbewachsenen Marktplatz, amüsierten sich die Bürger. Früher waren sie zu Pferd oder in Kutschen zu solchen Feierlichkeiten gekommen, heute waren die Transportmittel moderner, doch Musik und Gelächter füllten wie eh und je die lauen Sommerabende. Noch immer spielten die Kinder zwischen den alten Eichen oder wanderten umher, die eine Hand in der von Vater oder
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