Perfekt
alleinerziehende Mutter, hob die Hand und sagte schüchtern: «Wir - wir alle - möchten Ihnen sagen, wieviel es uns bedeutet, daß Sie das hier machen. Ich bin ausgewählt worden, Ihnen das zu sagen, weil ich bis jetzt am besten lese. Wir möchten, daß Sie wissen, wieviel Sie uns schon allein dadurch geben, daß Sie an uns glauben. Einige von uns«, sie zögerte und sah Pauline Perkins an, die erst kürzlich auf Rosalies Drängen hin zu der Klasse gestoßen war, »glauben nicht, daß Sie uns das Lesen wirklich beibringen können, aber wir wollen es wenigstens versuchen.«
Julie, die Rosalies Blick zu der dunkelhaarigen, ruhigen Frau um die vierzig gefolgt war, sagte sanft: »Pauline, warum glauben Sie, daß Sie nicht lesen lernen können?«
Die Frau stand auf und gestand mit unsicherer, leiser Stimme: »Mein Mann sagt, daß ich zu dumm dazu bin. Sonst hätte ich schon als Kind lesen gelernt. Und meine Kinder sagen dasselbe. Sie sagen, daß ich hier nur Ihre Zeit vergeude. Ich bin nur hergekommen, weil Rosalie erzählte, daß sie hier wirklich schnell lernt, obwohl sie nie gedacht hätte, daß sie es kann. Also hab' ich gesagt, ich versuche es mal ein paar Wochen.«
Die anderen Frauen im Raum nickten zögernd, und Julie schloß kurz die Augen, bevor sie ihnen die Wahrheit enthüllte, die sie so lange vor aller Welt verborgen gehalten hatte. »Ich weiß, daß Sie alle lesen lernen können. Ich weiß ganz sicher, daß nicht lesen zu können überhaupt nichts mit Dummsein zu tun hat. Und ich kann es beweisen.«
»Wie?« fragte Pauline ganz unverblümt.
Julie holte tief Luft und fuhr fort: »Ich weiß es, weil ich, als ich nach Keaton kam, in der vierten Klasse war und nicht halb so gut lesen konnte, wie Rosalie es jetzt nach wenigen Wochen in dieser Klasse tut. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man glaubt, man sei zu dumm, etwas zu lernen. Ich weiß, wie es ist, einen Gang entlang zu gehen und nicht in der Lage zu sein, die Aufschriften auf den Toilettentüren zu entziffern. Ich weiß, was Sie für Tricks entwickelt haben, um es vor der Öffentlichkeit zu verbergen, damit Sie nicht ausgelacht werden. Ich lache Sie nicht aus. Ich werde nie über Sie lachen. Weil ich nämlich noch etwas weiß ... Ich weiß, wieviel Mut es erfordert, daß Sie zweimal die Woche hierherkommen.«
Die Frauen starrten sie ungläubig an, dann sagte Pauline: »Ist das wahr? Sie konnten nicht lesen?«
»Es ist wahr«, antwortete Julie und hielt Paulines Blick stand. »Deshalb unterrichte ich Sie ja. Deshalb bin ich so entschlossen, die neuen Lernhilfen für Sie zu bekommen, die jetzt für Erwachsene angeboten werden, die nicht lesen können. Vertrauen Sie mir«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich werde einen Weg finden, daß Ihnen all diese Dinge zur Verfügung stehen. Deshalb fahre ich auch morgen früh nach Amarillo. Ich verlange von Ihnen nur, daß Sie etwas Vertrauen zu mir haben. Und zu sich selbst.«
»Ich habe jede Menge Vertrauen zu Ihnen«, scherzte Peggy Listrom, während sie aufstand und ihr Heft und ihre Stifte einpackte. »Aber was mich selber angeht, bin ich mir noch nicht so sicher.«
»Ich kann gar nicht glauben, daß Sie das gesagt haben«, neckte Julie sie. »Waren nicht Sie es, die am Anfang der heutigen Stunde damit angegeben hatte, daß sie schon einige Straßennamen entziffern kann?«
Als Peggy grinste und das Baby auf den Arm nahm, das im Stuhl vor ihr geschlafen hatte, wurde Julie wieder ernst. Sie entschied, daß ihre Schülerinnen gerade in diesem Anfangsstadium etwas Aufmunterung nötig hätten. »Bevor Sie alle gehen, sollten Sie sich vielleicht selber noch einmal daran erinnern, warum Sie lesen lernen wollen. Rosalie, wie ist das bei Ihnen?«
»Das ist ganz einfach. Ich möchte in die Stadt, wo es Arbeit gibt, und nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig sein. Aber ich kriege keinen Job, weil ich nicht in der Lage bin, einen Bewerbungsbogen auszufüllen. Und selbst wenn ich einen Weg finden würde, mich daran vorbeizumogeln, würde ich immer noch keine anständige Arbeit finden, solange ich nicht lesen kann.«
Zwei andere Frauen nickten zustimmend, und Julie sah Pauline an. »Pauline, warum wollen Sie lesen lernen?«
Sie lächelte verlegen. »Irgendwie möchte ich meinem Mann beweisen, daß er sich irrt. Ich möchte ihm einfach beweisen, daß ich nicht dumm bin. Und dann ...« Gedankenverloren verstummte sie.
»Und dann?« hakte Julie vorsichtig nach.
»Und dann«, beendete sie den Satz mit einem
Weitere Kostenlose Bücher