Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
wandte sie sich der Tür zur Krypta zu. Die Statue stand wieder an ihrem alten Platz. Vorsichtig schob Elysa sie beiseite.
Die Schwärze schien unten nur noch stärker zu werden, die Stufen verloren sich in einem bodenlosen, modrigen Schlund. Elysa hatte gehofft, das helle Leinen auf den Stufen liegen zu sehen, dort, wo sie atemlos gestanden hatten, während sie Idas Schritten lauschten. Doch es war nichts zu sehen. Sie brauchte ein Licht, um weiter unten zu suchen, niemals würde sie sich so heruntertasten wollen, und ohnehin wäre es unmöglich, das Leinentuch im Dunkeln zu erkennen.
Es war sinnlos. Elysa verharrte eine Weile, unschlüssig, ob sie unverrichteter Dinge in ihre Zelle zurückkehren oder sich um eine Fackel oder eine Laterne bemühen sollte. Flehend hob sie den Blick zum Gottessohn, der über dem Altar duldsam sein Kreuz ertrug.
»Dic lux!«, flehte sie flüsternd. »Gib mir ein Zeichen.«
Ein knarzendes Geräusch zerriss die Stille, ließ Elysa zusammenfahren. Die schwere Tür des Westportals wurde aufgeschlossen. Laute Schritte hallten erst durch den Saal, dann die Stufen zur Empore hinauf.
Hastig schloss Elysa die hölzerne Tür zur Krypta, und noch während sie die Statue an ihren Platz schob, ertönte der ohrenbetäubende Klang der Glocken. Es war die Zeit der Vigilien, der in der achten Nachtstunde begangenen Morgenfeier, nur zwei Stunden nach Mitternacht. Nicht viel später, und der Saal würde sich mit Nonnen füllen, die sich nun im Dormitorium erhoben und ohne Umwege zur Messe eilten.
Blindlings stürzte Elysa zum Nordtor hinaus. Kaum aber hatte sie den Laienhof betreten, öffnete sich die Tür des gegenüberliegenden Wohngebäudes.
Elysa schrak zurück, das Herz schien ihr zu bersten. Augenblicklich drückte sie sich an die Kirchenmauer und zog die Kapuze ihres Umhanges tiefer, um das helle Gesicht zu verbergen, und verharrte regungslos in der Dunklheit.
Die Gestalt indes, die das Haus verließ, eilte mit gesenktem Kopf und ohne sich umzusehen durch die Nacht in Richtung Pforte. Elysa stockte der Atem. Unter der in die Stirn gezogenen Kapuze hatte sie ganz deutlich das Gewand einer Nonne erkennen können. Sie hatte eine Laienschwester erwartet, eine Küchenmagd oder eine Wäscherin, die aus ihrer Wohnstatt im Westtrakt des Klosters geflohen war, um sich trotz strikter Geschlechtertrennung die Zeit mit Spiel und Gesang zu vertreiben. Doch es wog schwerer, wenn eine Nonne sich den weltlichen Gelüsten zuwandte. Zudem, welche der Schwestern kannte ein derartiges Vagantenlied?
Rasch sah sie sich um. Niemand kam, um der Nonne zu folgen. Nicht lange, und auch der Priester würde den Hof betreten. Elysahastete in Richtung Pforte, die den Laientrakt vom Klostertor trennte. Der Platz war noch leer, doch schon vernahm sie leise Schritte. Also lief sie weiter, ins Westgebäude hinein, bis sie in ihrer Zelle stand und keuchend innehielt.
2. TEIL
Die Luft aber hält das Wasser in seinen Bereichen.
Doch löst sie sich auf, fließt das Wasser über und erfüllt die ganze Erde mit heftig prasselndem Regen und Hagel von großen und kleinen sehr spitzen Steinen. Denn der Menschenmord ist voller Habsucht und verletzender Hartherzigkeit, die erbarmungslos in großen und kleineren Lastern wüten.
1
E s war ein klarer, windstiller Morgen. Im Osten stieg zögernd die Wintersonne, verfolgt von dunklen Wolken, die sich bedrohlich zusammenbrauten und einen nasskalten Vormittag versprachen.
Clemens von Hagen hatte Mühe, sich auf dem Rücken seines Pferdes zu halten. Nur kurz hatte er gehalten, um sich an einem kantigen Felsen die Fesseln der zurückgebundenen Hände aufzuscheuern.
Dann war er weitergeritten, an Feldern vorbei und an Siedlungen mit kleinen Gehöften und armseligen Hütten, deren Bewohner in tiefem Schlaf lagen. Durch sumpfige Niederungen und über sanfte Anhöhen mit dichtem Buschwerk.
An einer Stelle hatte er einen breiten Bach überqueren müssen. Fast wäre er in der Dunkelheit die Böschung hinabgerutscht, doch sein Pferd hatte das Wasser gewittert und das Schlimmste verhindert. Nun aber verweigerte das Tier jeden weiteren Schritt. Mit dampfenden Flanken blieb es stehen, stoisch, ohne auf das Treiben der Schenkel zu reagieren.
Ermattet legte Clemens seinen Kopf auf den Hals des treuen Rosses, das ihn Meile um Meile getragen hatte, vergrub das Gesicht in der Mähne und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die Römerstraße konnte nicht mehr weit sein, wenige Stunden nur, und
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