Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
vergossen.
Aber Magnus würde sie suchen lassen und für ihren Ungehorsam bestrafen. Sie müsste sich an einem anderen Ort verbergen. Ihre Habe, der Schmuck und das wertvolle Kleinod reichten sicher aus, um ihr für eine Weile ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Aber was käme dann? Ohne den Schutz der Familie wäre sie verloren. Eine alleinstehende Frau war in diesen Zeiten immerzu gefährdet, sie würde heiraten müssen, um ehrlosen Übergriffen zu entgehen.
Elysa dachte an all die Anträge, die sie voller Abscheu abgelehnt hatte. Ihre Freier waren allesamt selbstgefällige Männer gewesen, die sie als wohlgefallendes Beiwerk verstanden und bedingungslosen Gehorsam verlangten.
Das Bild des Kanonikus drängte sich auf, der Moment, als er seinen Mantel um ihre Schultern gelegt hatte und sich selbst der Kälte aussetzte. Sein ruhiges Gesicht stand ihr deutlich vor Augen, die Wärme und Zuversicht seiner Stimme strich sanft durch ihre Erinnerung. Eine unerwartete Zuneigung durchflutete ihr Herz, plötzlich und voll beunruhigender Intensität.
Elysa schrak auf und schüttelte heftig den Kopf. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie sich nun in dieser Lage befand. Er hatte sie dazu gedrängt, kurz bevor sie Eibingen erreichten. Hätte sieablehnen sollen, nachdem er von der Gefährdung der Heiligsprechung Hildegards berichtet und deren Schicksal in ihre Hände gelegt hatte? Ausgerechnet Hildegard von Bingen, die es vermocht hatte, den Menschen einen liebenden Gott nahezubringen, und deren Lebenswerk nun dem Spott des Volkes anheimfallen würde, gelänge es dem Teufel, ungestraft ihre Schäflein zu vertreiben.
Elysa seufzte. Nein, sie würde den Auftrag ausführen müssen – trotz der Bedrängnis, in die sie sich begab. Dann würde sie weiter zur Burg reisen und dort ausharren, Spitzfindigkeiten und Ungemach des Bruders ertragen, seine Launen, seine Tyrannei. Und wenn im Frühjahr der Zug zur Befreiung Jerusalems Magnus ins Gelobte Land führte, könnte sie hoffen, dass er niemals wieder zurückkam.
Elysa stand auf und blies warmen Atem in die kalten Hände. Sie musste sich auf ihre Aufgabe besinnen, die Zeit eilte voran. Nun waren es fast nur noch drei Tage, die ihr blieben.
Sie dachte an das niedergebrannte Dach des Seitenschiffes, überlegte, wer das Feuer entfacht haben konnte. Jeder kam in Frage, selbst Ida, jene kleine, bucklige Nonne, die vorgab, über die Moral zu wachen. Sie schien überall zu sein, nahezu unsichtbar und doch allgegenwärtig. Aber wie könnte Ida ein Feuer legen, das nur das Dach erfasste, nicht aber die unteren Mauern?
Nun, es gab eine Möglichkeit. Auch der Raum des Skriptoriums mit der Bibliothek hatte zum Teil gebrannt. Was, wenn die Nonne eine Fackel genommen und durch das Fenster des Skriptoriums auf das Dach des Seitenschiffs geschleudert hatte? Ida hätte den Lauf des Wurfes nur erahnen können. Ließ sie die Fackel zu nahe am angrenzenden Skriptorium aufkommen, so dass auch dieses entflammte?
Und wenn nun aber von Beginn an das Skriptorium das Zielgewesen war und das Seitenschiff nur zur Ablenkung diente? Margarete hatte den Leichnam des Mönches im Skriptorium gefunden. Wollte jemand dort Spuren verwischen?
Alles nur Mutmaßungen. Elysa sah ein, dass sie an diesem Tage nur wenig dienliche Erkenntnisse gewonnen hatte. Sie musste mehr erfahren, wenn sie bis zum vierten Tag zu einer Lösung kommen wollte. Morgen würde sie das Skriptorium besichtigen, das Adalbert gewiss nicht ohne Grund aufgesucht hatte, bevor er gestorben war.
Ihre Gedanken wanderten zur Krypta und zu dem Fragment, das sie nur für einen kurzen Augenblick in den Händen gehalten hatte. Es war kostbar und barg zweifellos ein Geheimnis, das der Schlüssel zu allen Vorfällen sein mochte. Was hatte Margarete damit getan, als sie Idas Stab hörten und das Licht löschten? Hatte sie es ins Mauerwerk zurückgeschoben? Undenkbar, sie waren umfangen von Dunkelheit gewesen – wie hätte die Nonne den Spalt finden können! Außerdem war Margarete wie erstarrt gewesen, es hatte Elysa Mühe gekostet, sie zur Flucht über die Treppe zu bewegen.
Elysa schrak auf. Oder lag das Fragment noch da, mitten auf dem nackten Boden, auf den Stufen der Treppe? Hatte Margarete es aus Angst vor der Entdeckung einfach fallen lassen?
Nein, sie konnte nicht untätig verweilen, sich der Kälte der Nacht hingeben und über ihr Schicksal brüten. Es gab weitaus Wichtigeres. Das Pergament war von größter Bedeutung, es galt, es zu finden
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