Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
und zu ergründen, warum der Mönch es bei sich trug.
Sie musste noch einmal in die Krypta.
Der Gang lag in Dunkelheit. Tastend ging Elysa durch das stille Gebäude. Die Nacht war schwarz, ohne Mond und Sterne. Aber der Wind war verschwunden, ganz plötzlich, so, als hätte es ihnniemals gegeben. Während Elysa ins Freie lief, war es ihr, als halte die Zeit den Atem an.
Ob Ida unterdessen schlief? Irgendwann musste sie es tun, sie konnte nicht die ganze Nacht Wache halten. Elysa lächelte. Welch absonderlicher Gedanke! Und doch – es beschrieb ihren Eindruck vortrefflich. Ida als unermüdliche Wächterin, Hüterin des Klosters. Aber über was wachte die Nonne? Über Anstand und Sitte, das war offensichtlich. Doch es gab noch etwas – das spürte Elysa bis in die Fingerspitzen. Was es war, konnte sie noch nicht ergründen, aber es hieß, vorsichtiger zu sein.
Das große Westportal war verschlossen, auch ihrem leisen Rütteln gab es nicht nach. Elysa lief zurück, durch das Westgebäude zum Kreuzgang hinaus. Doch der südliche Eingang ließ sich ebenfalls nicht öffnen.
Es gab noch eine Möglichkeit, gewiss, aber jene Tür, durch die der Priester nach der Komplet entschwunden war, lag nördlich der Kirche. Dort, wo die Konversen und zweifellos auch der Priester wohnen mussten.
Im Geiste durchmaß Elysa die Klosteranlage. Außer der Tür im Querschiff hatte sie keinerlei Verbindung zum nördlichen Trakt gesehen. Allerdings hatte sie bisher auch nie auf einen derartigen Zugang geachtet.
Wie aber gelangten die Küchenhilfen an ihren Platz, wie die Handwerker, die ebenfalls im Laientrakt nächtigten? Kamen sie durch die große Pforte, gleich den Pilgern und Gästen oder den Feldarbeitern, die die Früchte der Arbeit ins Kloster brachten?
Elysa eilte zurück zum großen Westportal der Klosterkirche. An der dem Laientrakt angrenzenden Kirchenseite verlief eine Mauer, an deren Ende, direkt vor dem Torhaus und dem anschließenden, westlich gewandten Klostertor, noch eine kleinere Pforte lag, die sich zum Norden hin öffnete.
Das musste der Durchgang zum Nordtrakt sein! Im Schutz derDunkelheit überquerte Elysa den Klosterhof und näherte sich der Pforte. Durch die schmale Fensteröffnung des Torhauses flackerte das Licht einer Fackel. Würde die Pförtnerin schlafen? Oder saß sie lauernd auf ihrem Schemel, auf jedes Geräusch achtend?
Zu Elysas Überraschung ließ sich der Durchlass zum Laientrakt geräuschlos öffnen. Flugs schlüpfte sie hindurch und verschloss ihn erneut.
Nun befand sie sich auf einem schmalen, mit einer Feldsteinmauer eingefassten Weg, der an der Kirche entlang zu jener Stelle führte, an der der Priester das Gebäude verlassen hatte. Unmittelbar vor dem Querschiff verbreiterte sich der Weg, wurde zu einem kleinen Platz, der von zwei Wohnhäusern aus Fachwerk und einer steinernen Kapelle umschlossen war.
Aus dem größeren der beiden Gebäude drang leise Musik. Elysa kannte das Lied, sie hatte es auf den Märkten in Mainz gehört, die sie mit der Großmutter oft besucht hatte, wenn die Händler aus Italien kamen, aus Frankreich und dem fernen Byzanz und all die herrlichen Stoffe, Leder und Gewürze feilboten.
Dieses Lied klang von Sehnsucht, von der Schönheit der Liebe und dem Schmerz des Verlustes.
Einer bin ich gut,
einem holden Sterne,
deren Kuss voll Glut,
süß wie Mandelkerne,
mir so sanfte tut,
mir erhöht den Mut,
der ich, ach, so gerne
schenkte Gut und Blut.
Ein Lied der Vaganten. Die Stimme aber gehörte einer Frau!
Elysa unterdrückte das Gefühl der Neugierde, das sie zumHaus hinzog, um zu ergründen, welche der Frauen sich unerlaubt in einem Männertrakt aufhielt.
Doch ungleich größer als die Neugier war der Drang, das Pergament zu finden, bevor es ein anderer tat. Hastig eilte sie voran, zum Seiteneingang der Kirche, den sie zu ihrer Erleichterung unverschlossen fand.
Völlige Dunkelheit umfing sie, die Kerzen waren gelöscht. Kein Lufthauch drang durch das offene Dach, die ungewohnte Stille war übermächtig. Ein Gefühl der Bedrohung kroch in Elysa hoch, hieß ihren Augen, zu blinzeln, damit sie nichts Unerwartetes ereilen konnte. Bebend stand sie im kalten Gemäuer und versuchte, den allzu schnellen Atem zu bezwingen. Sie bereute heftig, nichts bei sich zu haben, das eine der Kerzen hätte entzünden können, so blieb ihr nur, zu warten, bis die Augen sich dem Dunkel angepasst hatten.
Dann endlich, als sie die Umrisse des Kircheninneren zu erkennen begann,
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