Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
des gemeinsamen Mahls, ja, selbst das Erscheinen der Schwestern verlief nach einer festen Rangfolge.
Elysa selbst hatte als Anwärterin zu warten, bis alle Schwestern vorübergegangen waren, dann erst durfte sie sich der geforderten Kontemplation widmen. Ihr war die Teilnahme an den morgendlichen Versammlungen noch nicht erlaubt – was ihr sehr gelegen kam. So konnte sie sich, während die Nonnen dem Verlesen der Benediktsregel lauschten und Anliegen der Gemeinschaft besprachen, auf die Suche nach Margarete machen und dann, sollten sich ihre Befürchtungen als unbegründet erweisen, noch einmal in die Krypta steigen, bevor die Glocke die Prim einläutete.
Endlich folgten auch die Novizinnen. Ida, die zügig voranschritt, hatte Mühe, die Mädchen im Zaum zu halten. Immer wieder mahnte sie barsch zur Ruhe, bis sie die Novizinnen schließlich zum Stehenbleiben aufforderte und mit gesenkter Stimme zu ihnen sprach.
Die Mädchen verstummten augenblicklich und gingen nun schweigsam und mit geröteten Wangen weiter. Was hatte Ida ihnen gesagt? Hatte sie ihnen gedroht?
Elysa musterte die bucklige Gestalt, ihren forschen, ehrfurchtsgebietenden Gang. Die Sorge um Margarete wich unvermittelt einer seltsamen Heiterkeit, die durchwachte Nacht tat ihr Übriges. In ihrer übermüdeten Phantasie überkam Elysa die unchristliche Vision eines übelgelaunten Zwerges mit missgestaltetem Leib, der stampfend und mit verzerrtem Gesicht über das Reich der Schatten herrschte. Dieses absurde Bild ließ sie unwillkürlich leise auflachen, gerade als die blinde Nonne an ihr vorbeischritt. Augenblicklich blieb Ida stehen.
»Was stehst du hier herum und huldigst dem Müßiggang? Verharre in Demut, Handwerkstochter, und zügele deine Heiterkeit.Nur ein Tor bricht in Gelächter aus. Hat dir Margarete das nicht beigebracht?«
Erschrocken bedeckte Elysa ihren Mund. »Woher weißt du, wer vor dir steht?«
»Schweig still, Anwärterin«, knurrte Ida und sah ihr mit milchigen Augen streng ins Gesicht. »Du glaubst wohl, nur weil ich blind bin, kann ich nicht sehen? Wer wohl würde noch hier stehen und warten, bis Nonnen und Novizinnen ihren Platz im Kapitelsaal eingenommen haben?« Ihre Züge verrieten tiefe Abscheu. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Hüte dich vor den Versuchungen des Teufels, der alten Schlange, und halte deine Zunge im Zaum. Antworte, wenn du gefragt wirst, in Demut und Gehorsamkeit, nicht mit einer Gegenfrage. Also übe dich in Ehrfurcht und neige dein Haupt, wenn du nicht die Kraft der Rute am eigenen Leibe erfahren willst. Und nun auf, folge mir!«
»Aber …« Elysa verstummte.
»Die heutige Versammlung wird nicht abgehalten, um das Martyrolog zu lesen«, fuhr Ida etwas milder fort. »Die Priorin hat eine Verkündung zu machen und ausdrücklich deine Anwesenheit befohlen.«
Damit wandte sie sich ab und folgte den Novizinnen in den Kapitelsaal.
Elysa stand starr vor Wut und überwältigt von der Kraft der Demütigung, welche die Nonnen wohl täglich zu spüren bekamen. Nun endlich verstand sie Margaretes Kleinmut, denn Ida würde es nicht nur bei der bloßen Androhung von Züchtigungen belassen. Die blinde Nonne besaß den Scharfsinn einer Sehenden. Zweifellos hatte sie Elysa bei ihrer Flucht aus der Krypta erkannt.
Sollte sie nun deshalb, gegen jede Regel, an der Versammlung teilnehmen? Beunruhigt betrachtete Elysa den türlosen Raum, der sich über die Arkaden hin zum Innenhof öffnete. Die Priorinwar zweifellos streng. Wollte sie Elysa nun vor dem versammelten Konvent für ihr Vergehen geißeln?
Diese Schmach wollte Elysa nicht zulassen. Bevor die Geißel auf sie niederging, würde sie sich losreißen und zum Nordtrakt laufen. Keine der Nonnen würde es wagen, ihr zu den Laienbrüdern zu folgen.
Elysa atmete tief durch. Doch zunächst galt es herauszufinden, ob sie mit ihren Befürchtungen recht behielt. Langsam und mit gesenktem Kopf folgte sie den Novizinnen und betrat widerstrebend das Gebäude.
Der Kapitelsaal war ein Zeugnis von vergangenem Reichtum, groß und mit hohem Kreuzrippengewölbe. Elysa setzte sich an den ihr zugewiesenen Platz am äußersten Rand und wartete voller Unruhe auf das Eintreffen der Priorin.
Das Licht des steigenden Morgens fiel gleißend durch die rechts und links des Portals angeordneten Arkadenfenster in den Raum und bildete einen berückenden Gegensatz zu dem gruftartigen Inneren. Das Portal selbst wurde von aufwendigen Monumentalfiguren eingerahmt. Elysa fragte sich, warum
Weitere Kostenlose Bücher