Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
hoffe. Hatte Adalbert Euch wissen lassen, was ihn nach Eibingen führte?«
»Nein. Wir waren in großer Sorge, denn wir erwarteten seine Rückkehr noch im September. Er war einer unserer fähigsten Schreiber, seine Kunst war für uns von größter Bedeutung. Niemand führte den Federkiel so wie er. Doch im Oktober erreichte uns dann die Nachricht von seinem Tode.«
Clemens warf einen suchenden Blick ins Boot. Am Bug lag ein Sack, der allerdings zu klein war, um einen Menschen darin zu verbergen. »Ich nahm an, Ihr würdet Adalbert nach Zwiefalten führen, um ihn dort in geweihter Erde zu bestatten?«
»Der Wunsch unseres Bruders war es, sollte der Tod ihn vorzeitig ereilen, in der Nähe der verehrten Meisterin begraben zu werden, und nachdem Priorin Agnes es ihm verweigert hatte, sind wir zum Rupertsberg gegangen, wo man sich seiner Seele gnädig erwies.«
»Man hat ihn dort bestattet? Doch war die Äbtissin nicht voller Sorge, ob …«
»Ihr meint, ob der Teufel von unserem Bruder Besitz ergriffen habe?« Der Mönch verzog das Gesicht zu einem schmerzvollen Lächeln. »Ja, auch ich bin erschaudert, als ich den Leichnam entgegennahm. Er war in einem erbärmlichen Zustand, und das lag bei Gott nicht nur an seinem Äußeren. Die Priorin hatte daswenige kostbare Salz der Klosterküche nicht hergeben mögen, um seinen Körper damit zu versehen und von der raschen Verwesung abzuhalten, und so begannen ihn die Maden bereits zu durchbohren, und es umgab ihn ein entsetzlicher Gestank. Glaubt mir, Ihr hättet uns auf drei Meilen hinweg finden können, hätten wir Bruder Adalbert noch mit uns geführt. Nein, ehrenwerter Clemens von Hagen, wir haben lediglich Herz und Eingeweide bestattet und das Fleisch von den Knochen gekocht, so dass seine Knochen in Zwiefalten ihre Ruhe finden können. Doch sein Herz, Sitz der Seele, der Liebe und des Geistes, ruht nun an jenem Ort, mit dem er zeitlebens verbunden war.«
Clemens nickte. Er musste zugeben, den Verwesungsprozess unterschätzt zu haben. »Ich hatte gehofft, anhand des Leichnams die Umstände seines Todes in Erfahrung zu bringen.«
»Lasst uns ein Stück gehen.« Bruder Wenzel führte ihn am Arm ein Stück die Uferböschung entlang, dann sah er sich kurz um, als wolle er sicher sein, dass ihn niemand hörte. »Ihr spracht vom Vermächtnis der seligen Hildegard?«, fragte er flüsternd. »Wie seid ihr der Meisterin verbunden?«
»Ich habe sie gekannt. Ich war Gast im Rupertsberg …«
»Und weiter?«
»Heinrich von St. Stephan, einst Seelsorger auf dem Rupertsberg, war mein Großonkel.«
Bruder Wenzel musterte Clemens prüfend, dann nickte er zufrieden. »Ich kannte Euren Großonkel. Er starb unvermutet, wenngleich in hohem Alter.« Er lächelte. »Ihr habt seine Nase.«
»So sprecht, was, glaubt Ihr, führte Adalbert nach Eibingen?«
»Ich weiß es nicht. Unser Bruder verließ Zwiefalten, um dem Rupertsberger Hildegardisfest beizuwohnen, das alljährlich gefeiert wird. Seit dem Tod der verehrten Hildegard von Bingen ist es Tradition, einen der auserwählten Mönche zu entsenden.«
»Auserwählt?«
»Sagt, kennt ihr die Lingua Ignota ?«
Clemens nickte heftig. »Gewiss, Hildegards himmlische Sprache, die sie in ihren Visionen hörte und aufgezeichnet hat. Sie ist im Codex enthalten.«
»Der Codex enthält nur Substantive.«
»Ja, das ist mir bekannt. Unmöglich, damit eine lebendige Sprache zu sprechen, sich darin zu verständigen. Denn wie soll man Gefühle ausdrücken, wie die Schönheit der benannten Dinge? Gibt es nur ein Wort für Sonne, so kann sie nicht strahlen – gibt es ein Wort für Prophetin, so fehlt die Verehrung. Und was ist mit der Schönheit von Edelsteinen, ihr Funkeln und Glimmen?«
»In der Wortliste gibt es keine Entsprechung für Steine.«
Clemens sah den Mönch erstaunt an. »Nicht? Doch wie ist das möglich? Sind Steine nicht himmlischen Ursprunges? Zwölf Edelsteine auf dem Amtsschild des Hohepriesters, die zwölf Steine der geheimen Offenbarung, Grundsteine der Mauer des Neuen Jerusalems, entsprechend den zwölf Stämmen Israels und den zwölf Aposteln. Topas, Jaspis, Saphir, Karfunkel, Smaragd, nichts von dem wird erwähnt?«
»Nicht so im Codex.«
»Doch wo dann? Es muss mehr Worte geben. Sprecht, was wisst Ihr davon?«
Der Mönch schüttelte bedauernd den Kopf. »Wie ich bereits erwähnte: Es sind Auserwählte, die um das Geheimnis dieser Sprache wissen. Einer von ihnen war Adalbert.«
Clemens spürte eine wachsende Erregung.
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