Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Krampfen der sterblichen Hülle! Die Drachen leckten und geiferten, doch zu Elysas Erstaunen konnten sie ihren Leib nicht berühren. Die Prophetin war allgegenwärtiger Schutz, welcher Teufel konnte ihr etwas anhaben?
Glockengeläut drang in ihr Ohr, laut und ohne Unterlass. Wie süß war der Klang der Verheißung! Elysas Angst wich himmlischer Zuversicht, sie ließ sich treiben in saftigem Grün. Helles Licht berührte ihre Augen, lockte mit sphärischen Klängen, doch etwas störte. Ein Gedanke drang in die Idylle, kämpfte sich nach oben.
Elisabeth …
Die Prophetin, die unterdessen den ganzen Raum einnahm, öffnete die Lippen, ihre Züge wandelten sich zu Margaretes. »Die Maßlosigkeit ist ein schlimmes Laster, das alles an sich reißt, um es zu verschlingen. Nun hat der Teufel, die alte Schlange, sich ihrer angenommen. Gott sei ihrer Seele gnädig.«
Die Worte zerbarsten in Elysas Kopf. Würde sie vom himmlischen Licht ins verzehrende Feuer gestoßen, als Strafe für die Sünde der Gier, das duftende Fleisch, die fetttriefenden Finger … Elisabeth … rund und maßlos …
Die Erkenntnis erreichte sie wie ein Donnerschlag. Nein, nicht der Teufel, eine allzu menschliche Gestalt …
Hatte Elisabeth von dem Fleisch gegessen, das für Adalbert vorgesehen war? Würde nun auch sie elendig sterben? Aber das Fleisch war für Margarete gedacht. Margarete … Nein, es durfte nicht geschehen!
Elysa richtete sich auf. Der Kopf schien zu bersten, doch es war ihr gleichgültig. Sie würde sich dem nicht ergeben, sie musste sich bemerkbar machen. Und wenn auch ihr eigenes, unwürdiges und ohnehin aussichtsloses Leben erlöschen sollte, sie musste es tun, um Margaretes zu retten.
Ungeachtet der zitternden Glieder kroch sie die Treppe hinauf, lehnte sich mit dem Kopf an die verriegelte Tür, und während sich im Nonnenchor der Hymnus zur Sext erhob, begann Elysa aus Leibeskräften zu schreien.
10
M argarete erwachte, Ein bohrender Schmerz grub sich durch den Hinterkopf und setzte sich in der Stirn fest, über dem linken Auge. Sie wollte sich aufsetzen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht.
»Ruhig, Schwester, ruhig.«
Jutta beugte sich über sie, und gleichwohl sie vortrefflich über medizinische Notwendigkeiten zu streiten vermochten, war Margarete erleichtert, sie zu sehen.
»Was ist passiert?«
»Wir fanden dich im Badehaus, auf nacktem Stein. Beinahe leblos und mit einer klaffenden Wunde am Hinterkopf.«
»Im Badehaus?«
Nach den Vigilien war sie im Kreuzgang gewandelt und hatte sich voller Sorge in Meditation versenkt, soviel wusste Margarete noch. Am Abend zuvor hatte sie Elysa das Pergament gezeigt, doch sie waren entdeckt worden und dem Zugriff der Hüterin gerade noch entkommen. Margarete erinnerte sich an die durchwachte Nacht auf der Strohmatte, an die Last, die sie zu erdrücken suchte.
Langsam kehrte die Erinnerung zurück.
Die ganze Nacht hatte sie versucht, die Gedanken an ihre unbegreifliche Tat zu verscheuchen. Nie hätte sie das Pergament eigenmächtig einstecken dürfen, doch eine Sünde ließ sich nursühnen, wenn man beichtete. Ja, im Kreuzgang war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass sie sich dem Seelsorger anvertrauen musste.
»Ich bat Humbert von Ulmen, mir das Sakrament der Beichte zu gewähren«, flüsterte sie.
Jutta sah sie an, wortlos fragend.
»Ich fand ihn in der Kirche, er war damit beschäftigt, die geweihten Geräte zu pflegen. Ich bat ihn, meine Sünden der Gnade des Herrn zu überantworten. Doch die Beichte alleine vermochte meine Seele nicht zu erlösen. So wurde mir auferlegt, meine Verfehlung vor unserer Priorin zu offenbaren, wenn ich zu vollkommener Reinheit zurückkehren wolle. Doch dazu ist es nicht gekommen …«
Schweiß trat auf Margaretes Stirn. Gepeinigt von aufsteigendem Schwindel, schloss sie die Augen.
»Hier, Schwester, nimm die Arznei.«
Der dickflüssige Sud schmeckte bitter und scharf. Margarete musste sich zwingen, ihn zu schlucken. Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf das Tischchen neben dem Lager, eine gebratene Ente, groß und duftend. Doch sie verspürte keinen Hunger.
»Liebe Margarete, es steht mir nicht zu, über die Sünde zu urteilen, die du begangen hast, aber es muss etwas Furchtbares gewesen sein, wenn es eine von uns dazu verleitet, dir den Schädel einzuschlagen.«
»Eine von uns?«
»Nun, wer kann es gewesen sein, der Teufel wohl nicht, denn er pflegt die Menschen nicht mit Schlägen zu packen.«
»An wen denkst du?«,
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