Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
dort keiner der Reisenden den Benediktinern begegnet war?
Die Priorin hatte von vier Mönchen erzählt, die einen schmalen, einspannigen Pferdewagen bei sich führten, um den in Rinderhaut gewickelten Leichnam zu transportieren. Wie konnte solch ein Tross übersehen werden?
Oder war es richtiger, das Unternehmen als gescheitert aufzugeben und zum Kloster Rupertsberg zu reiten, um dort die Äbtissin zum Aufenthalt des Mönches Adalbert zu befragen, der in den Tagen des Hildegardisfestes zu Gast bei ihnen war?
Unschlüssig ritt Clemens voran.
Sein Blick fiel auf den Rhein. Ein Gedanke bemächtigte sich seiner, überfiel ihn, als ereile ihn eine Botschaft des Himmels. Nein, dachte er, unmöglich konnten sie diesen Weg gewählt haben! Doch dann entsann er sich seines kurzen Traumes. »Halte den Weg, wohin deine Füße zeigen, denn abseits davon liegt dein Ziel«, hatte ihn der gesichtslose Mönch gemahnt. War es ein Hinweis, eine Vision?
Abseits, das war der Fluss. Doch eine Fahrt war kostspielig, mehr als ein Kloster in diesen Tagen aufbringen konnte, zudem gab es nur wenige Boote, die ein Pferd samt Karren zu tragen vermochten. Und dennoch …
Clemens trieb das Ross an, jagte zum Ufer, auf die Fährmänner zu, die einen Prahm mit Holzkisten beluden.
»Sind Euch Mönche begegnet, die einen Pferdekarren mit sich führten?«, fragte er atemlos.
Einer der Fährmänner, dickleibig und mit vollem Bart, zeigte flussabwärts. »Ich sah vier Mönche in einem Boot vorbeitreiben, doch war weder ein Pferd mit an Bord noch ein Karren.«
Hoffnung keimte in dem Kanonikus auf. Das konnten die Gesuchten sein. War ein Unglück passiert, hatte man sie überfallen und ihres Fuhrwerkes beraubt?
»Wann genau war das?«
»Nicht lange, bevor Ihr kamt. Das Boot war klein und schwankte. Ich befürchtete schon, die Last würde ob des Hagels zu schwer, doch die Mönche warfen ihn mit bloßen Händen wieder hinaus.«
Mit einem kurzen Gruß wendete Clemens das Pferd und ritt in Richtung Cannstadt, die ihm der Fährmann gezeigt hatte.
7
M ild schien das Licht des prasselnden Ofens auf Margaretes Antlitz. Noch immer lag die Nonne mit geschlossenen Augen da, das ehedem runde, warmherzige Gesicht war grau und eingefallen.
Auch wenn Jutta mit ihrer Arznei das Wunder vollbracht hatte, Margaretes schwindenden Geist am Leben zu erhalten, so war doch eine Gesundung ungewiss. Der Atem des Todes schien an jeder Ecke zu lauern, nicht nur in dieser Stube.
Elysa betrachtete die Nonne und dachte an ihre Mutter, die ebenso ihre weichen Züge verloren hatte – an jenem schrecklichen Tag im Herbst, als die Unbarmherzigen sich versammelt hatten, um sie zu züchtigen. Mit einer knappen Handbewegung vertrieb Elysa die Erinnerung.
Seufzend wandte sie sich ab und rieb fröstelnd die Arme. Die Kälte, die mit ihr in den Raum gelangt war, verzog sich nur langsam. Jutta war entgegen ihrer Versicherung nicht anwesend. Wie konnte sie Margarete nur alleine lassen?
Zu Elysas Erstaunen aber hatte man unterdessen neben dem Krankenlager ein Tischchen gestellt. Auf ihm stand eine Schale mit gebratener Ente, deren wahrhaft köstlicher Geruch ihr in die Nase stieg und sie schmerzhaft daran erinnerte, dass sie seit ihrer Ankunft in dem Kloster außer Getreidebrei, etwas Brot und einem erbärmlichen Stück Käse nichts zu essen erhalten hatte.
Die Ente, deren Genuss eigentlich nur den Kranken vorbehalten war, kam Elysa wie ein Festschmaus vor. Sie betrachtete das Fleisch genauer, es war ausreichend für zwei hungrige Mäuler. Glaubte man wahrhaftig, Margarete würde die Augen bald aufschlagen und sich sogleich an der Ente stärken?
Das Wasser lief Elysa im Munde zusammen. Und wenn sie nur ein Stück kostete, nur ein einziges kleines Stück?
Nein, es ging nicht. Mundraub an einer Kranken zu begehen war eine unverzeihliche Sünde.
Energisch drehte sich Elysa um und betrachtete stattdessen den Platz an der Stirnseite des Raumes, an dem die Medica ihre Kräuter zu mischen pflegte. Jutta hatte ihren Bereich gut bestellt, die Krankenstube war sauber, der Arzneischrank wohlgeordnet, in ihm befand sich ein großes Herbarium mit säuberlich beschrifteten Töpfen und Krügen. Elysa trat heran, um die Gefäße einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
»Tanacetum vulgare«, las sie leise, »Taxus baccata, Mentha crispa, Symphytum officinalis.«
Auf einem Tisch gleich neben dem Arzneischrank standen ein zweiarmiger Kerzenleuchter, davor ein Kruzifix und ein
Weitere Kostenlose Bücher