Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
vitae meritorum . Doch wo ist der Scivias ? Das erste große Visionswerk der Prophetin, jenes Werk, das Papst Eugen dazu veranlasste, sie auf der Synode von Trier vor den versammelten Kirchenfürsten als Sprachrohr Gottes anzuerkennen! Es muss einen Grund haben, dass es nun verschwunden ist, und ich glaube, ihn zu wissen.«
»So sprich«, sagte Elysa ungeduldig.
»Erinnerst du dich noch der Worte, die auf dem Pergament geschrieben standen?«
»Nur in Bruchstücken. Soweit ich erinnere, ging es um eine Kugel, die emporstieg, und um Feuer.«
»Die Kugel, das ist die Sonne, die sich mal dem flammenden Feuer nähert, mal gen Kälte hinabsinkt. Die Miniatur, deren Teil du sahst, gibt es noch einmal. In wunderbarer Machart, weit größer, sie füllt ein ganzes Blatt. Ich sah sie vor Jahren, kurz nachHildegards Tod, als wir zum Rupertsberg zogen, um den Heimgang der Prophetin zu betrauern. Zu dieser Zeit war es mir vergönnt, auch das Rupertsberger Skriptorium zu besichtigen, in dem viele Schwestern arbeiteten. Dieses Bild aber lag auf einem der Tische, um mit anderen Seiten zu einem Buch verbunden zu werden: dem Scivias .«
»So entstammte auch der Text auf dem Pergament dieser Visionsschrift?«, fragte Elysa.
»Ja. Und nun frage ich dich: Warum war Adalbert von Zwiefalten im Besitz eines Pergaments, das eine Kopie der Vision der Meisterin enthält? Einer Kopie, die von ihrer Beschaffenheit her dergestalt ist, dass sie fraglos im Rupertsberger Skriptorium gefertigt wurde.«
»Noch dazu mit sichtbar gemachten Zeichen, die uns mit unbekannten Worten belehren wollen. Was besagt, dass man im Rupertsberg um ein Geheimnis weiß, das Adalbert zu entschlüsseln suchte.« Elysa starrte auf das flackernde Licht. »Oder es bedeutet, dass das Geheimnis nicht mehr zugänglich ist und man Adalbert bat, es aufzuklären.« Sie sah Margarete an. »Wie viel weißt du von der Lingua Ignota ?«
»Nicht viel. Ohne Zweifel war diese Schöpfung für Hildegard von großer Wichtigkeit. Sie erwähnte einmal, dass sie in ihren Visionen den Klang dieser Sprache vernahm. Gleich dem Gesang der Engel, denn es sei eine Sprache, deren Worte eine tönende Qualität besitzen und sowohl gesprochen als auch gesungen werden können. Hildegard war getrieben davon, die Worte niederzuschreiben und eine Registratur anzulegen, ein Wörterbuch der himmlischen Sprache, der Ursprache des Paradieses. Doch nie hat sie uns diese Sprache gelehrt. Nur im Rupertsberg kannte man einige der Worte.«
»Und in Zwiefalten …«
»Ida war zu dieser Zeit Nonne im Rupertsberg.«
»Ida?« Das war eine unerwartete Neuigkeit. »Was hat sie nach Eibingen geführt?«
»Es wurde nie darüber gesprochen. Doch man sagte, es sei die Strafe für ihre Hoffart. Ida war eine der fleißigsten Nonnen, der Prophetin gänzlich zugetan. Doch sie wollte es ihr gleichtun und verdarb.« Margarete wandte sich ab, starrte ins Leere. »Dereinst besaß Ida das Augenlicht, war eine begabte Schreiberin. Im Alter von zwanzig Jahren jedoch sah sie ins gleißende Licht der Sonne, im Versuch, es der Meisterin nachzutun. Sie verharrte offenen Auges über Stunden, bis sich der Blick verschleierte und ihr die Sicht für immer nahm.«
Der Hochmut und dessen Bestrafung schienen sich durch diesen Konvent zu ziehen. Agnes, die Äbtissin werden wollte und zur Priorin im unliebsamen Tochterkloster bestellt wurde. Und auch Ida, die ihren Hochmut mit dem verlorenen Augenlicht büßte und vom hochangesehenen Mutterkloster nach Eibingen ging. War dieses Kloster ein Pfuhl der sündigen Seelen, die hier ihre Bußfertigkeit erprobten, um am Ende der Tage vor Gottes gestrengem Auge zu bestehen? Doch galt nicht auch Hildegard von Bingen als hochmütig, als sie dereinst die Heilige Schrift eigenwillig und gegen so manche Regel der Kirchenväter im Sinne Evas auslegte und Kaiser und Kirchenfürsten zur Räson rief?
Nach einer kurzen Zeit des Schweigens ereiferte sich Margarete über die Schärfe des Gottesurteils.
Elysa nickte geistesabwesend und überdachte die neuen Erkenntnisse zur Miniatur. Hatte jemand den Scivias willentlich beiseitegeschafft oder gar vernichtet? Sollte es zu bedeuten haben, dass sich hinter dem Pergament des Mönches ein Sinn ergab, der sich im Scivias wiederfand? Wozu dann aber die geheimen Zeichen?
»Kennt Ida die Lingua Ignota ?« Es war ein ungeheuerlicher Gedanke, doch als er in Elysa aufstieg, erinnerte sie sich desMomentes, in dem die blinde Nonne die verbrannten Hände in die Höhe
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