Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
geworfen und voller Entzückung die ersten jubelnden Worte in einer ihr gänzlich unbekannten Sprache gerufen hatte. Einer Sprache, die klang, als würde sie singen: Aigonz est Ophalin !
»Es wäre denkbar …«, antwortete Margarete zögernd.
»Also rasch, gehen wir in die Krankenstation. Sobald Ida ihr Bewusstsein wiedererlangt hat, befragen wir sie.«
»Langsam, langsam!« Margarete versuchte Elysas Eifer zu dämpfen. »Bevor wir Ida in diese Untersuchung mit einbeziehen, solltest du eines bedenken: Ida als Hüterin der Moral wird auf unsere Fragen nicht antworten, nie wird sie gegen die uns auferlegte Regel verstoßen, die es verbietet: ›Ich sprach, ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stellte eine Wache vor meinen Mund, ich verstummte, demütigte mich und schwieg sogar vom Guten.‹«
»Eure Gebote sind zuweilen hinderlich, und das wird auch Ida erkennen, wenn sie auf der Seite der Gottesfürchtigen steht«, erklärte Elysa.
»Dann aber wird sie das, was wir bereden, sogleich gehorsam der Priorin melden, so wie es die Consuetudines verlangen. Und über diese wird alles an Radulf von Braunshorn gelangen, was der Herr verhüten möge.«
»Nicht, nachdem ihr von Agnes kein Beistand zuteilgeworden ist.«
»Was hätte die Priorin auch tun können? Sich dem Exorzisten widersetzen? Nein, das konnte Ida nicht von ihr erwarten. Es war Aufstand genug, die Stimme zu erheben und den Herrn um Barmherzigkeit anzuflehen.«
»Das sehe ich ein.« Elysa seufzte.
Plötzlich begannen Margaretes Augen zu blitzen. »Wir könnten uns ihre Vision zunutze machen.« Ein Lächeln warf kleine Falten um ihre Augen.
»Auf welche Weise?«
»Nun, da sie gleich der Prophetin eine Vision ereilte, werden wir sie als Sprachrohr Gottes um Hilfe bitten können, so wie man es einst bei Hildegard tat. Zu ihr kamen dereinst unzählige Menschen, um ihren Rat zu hören. Die selige Meisterin erhielt die Antwort in wahrhaftiger Schau – wie sie immer wieder beteuerte, in wachem Zustand. So war es ihr möglich, die Antworten des lebendigen Lichts ohne tiefe Versenkung weiterzugeben. Die ungeheuerlichsten Dinge entfuhren ihrem Mund, doch wer sollte sie dafür richten? Mit Gott streitet man nicht.« Margaretes Wangen begannen in einem zarten Feuer zu glühen. »Bedenke, Ida ist blind und doch das Auge des Konvents. Sie wandelt Tag und Nacht durch die Gänge. Ihre Sinne sehen mehr als wir, sie wird Dinge erfahren, die uns verborgen blieben. Als Ordensschwester ist ihr das Reden verboten, doch als Sprachrohr des Himmels wird man es ihr nicht verwehren können. In dieser Sicherheit jedoch kann sie uns offenbaren, was sie weiß, Hinweise geben, ohne gegen die Regeln zu verstoßen.«
Elysa nickte erstaunt. Es ist eine verkehrte Welt, dachte sie, in der die Nonnen, zur schweigsamen Innenschau verdammt, zu den erstaunlichsten Erkenntnissen gelangen, während diejenigen, die sich für gelehrt halten, im Dunkeln tappten. »Auf denn«, sagte sie lächelnd, »so wollen wir Idas Worten lauschen.«
8
A ls die beiden das Gebäude auf dem Weg zur Krankenstube verließen, lief ihnen Jutta entgegen. Ihre Augen blickten unruhig, lamentierend hob sie die Hände.
»Ida ist verschwunden. Ich habe sie überall gesucht. Sie ist weder in den Konventräumen noch im Badehaus oder bei den Latrinen.«
»Wie kann eine blinde, von Brandwunden geschwächte Nonne ohne weiteres verschwinden?«, sagte Elysa. »Sie wird in die Kirche gegangen sein, um dem Herrn für seine Barmherzigkeit zu danken.«
»Dort habe ich nachgesehen, doch nur den Seelsorger vorgefunden.« Die Medica seufzte schwer. »Ich werde Meldung machen und Rechenschaft ablegen müssen. Radulf von Braunshorn hatte sie unter meine Aufsicht gestellt.« Damit drehte sie sich um und eilte zum Südportal der Klosterkirche, in deren Sakristei sich nun der Bereich des Exorzisten befand.
Die Nachricht von Idas Verschwinden löste eine allgemeine Verunsicherung aus. Die Nonnen waren insgeheim zu dem Schluss gekommen, dass sie nun, da sie eine göttliche Vision ereilt hatte, den Respekt verdiente, den sie zuletzt vergeblich eingefordert hatte. Ihre Abwesenheit verhieß nun Böses.
Aufgeregt liefen sie durch die Gebäude und riefen ihren Namen, erst leise, dann mit zunehmender Stärke, doch die Rufe verhalltenungehört, niemand gab Antwort. Ida blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Auch die Priorin beteiligte sich an der Suche, Otilie wurde herbeizitiert und befragt. Sie
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