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Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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innehalten. Lachen mischte sich mit Schluchzen, als sie erneut die Arme ausbreitete und die Augen schloss. Wie eine Weide schwankte sie im Winde, die Füße fest auf dem Gesims, der Oberkörper mal nach vorne, mal zur Seite pendelnd.
    Unvermittelt aber tauchte hinter Anna unerwartet Gudruns Antlitz auf. Die Glöcknerin streckte ihre stämmigen Arme zur Turmöffnung hinaus und schob sie nach vorne, um nach dem Wollhabit der Oblatin zu greifen. Anna riss die Augen auf, als die Hand sie packte. Elysa konnte nicht erkennen, ob erleichtert oder empört.
    Jäh durchfuhr Anna ein entsetzlicher Ruck, sie warf sich nach vorne ins Nichts. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Gudruns Hand packte zu, hielt mit unvorstellbarer Kraft das Gewand am Rücken. Für einen Moment sah es so aus, als gelänge es ihr, die Oblatin nach oben zu ziehen, doch das Gewand konnte dem Gewicht der heftig strampelnden Anna nicht standhalten. Siefiel mit geschlossenen Augen und einem seligen Lächeln auf den Lippen.
    Ihr Körper prallte mit einem unmenschlichen Krachen auf dem Vordach auf und stürzte mitten auf die Stufen der Kirche, wo die Nonnen entsetzt kreischend auseinanderstoben.
    Nie würde Elysa das Geräusch des platzenden Schädels vergessen, nie das verstörte Gesicht des Exorzisten, dessen Gewand über und über mit Blut bespritzt war, nie das Entsetzen des Seelsorgers, der zum Kirchenportal hinausstürzte und sich beim Anblick der versprengten Gedärme augenblicklich erbrach.
    Wie in Trance betrachtete Elysa den aufgerissenen Körper, der, seltsam verrenkt, langsam die Stufen hinabglitt. Das Gewand hochgerutscht, die Scham entblößt. Dann wandte sie sich ab.
    Traure, Erde, mein Gewand ist zerrissen. Zittre, Abgrund, meine Schuhe sind schwarz geworden.
    Der Ablauf der Terz fand wie vorgesehen statt. Niemandem war es erlaubt, für das Seelenheil der toten Schwester zu beten. Mit keinem Wort fand der grauenhafte Vorfall Erwähnung. Der Seelsorger sprach mit betulicher Stimme, die Nonnen sangen im Chorbereich. Ihre Stimmen aber klangen verhalten, gebrochen in Trauer:

    »Omni consummationi vidi finem latum mandatum tuum nimis;
    Mem quam dilexi legem tuam tota die haec meditatio mea.«
    Ich will Deine Befehle nimmermehr vergessen;
    Denn Du erquickst mich damit.
    Ich bin Dein, hilf mir;
    Denn ich suche Deine Befehle.
    Die Gottlosen lauern mir auf, dass sie mich umbringen;
    Ich aber merke auf Deine Mahnungen.
    Ich habe gesehen, dass alles ein Ende hat,
    aber Dein Gebot bleibt bestehen.
    Anna hatte gesündigt, als sie sich von dem Gesims stürzte, sie hatte wider Gottes Gebote gehandelt. Nun war es an den Konversen, die Spuren des Unglücks zu beseitigen, die Laienschwester und Laienbrüder, die sich nun aufmachten, Annas sterbliche Überreste fortzuschaffen und irgendwo im Feld zu begraben, nicht in der geheiligten Erde des Friedhofs, der außerhalb des Klostergeländes lag.
    Immer wieder wanderten die Blicke zu dem leeren Platz im Chorgestühl, als wollten sie das Geschehene nicht begreifen. Auch Idas Platz war leer, und Elysa fragte sich, ob es einen Zusammenhang gab. Doch so sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie wollte ihn nicht sehen.
    Ihre Gedanken schweiften zu den Ereignissen der letzten Tage. Wie viel war seit ihrer Ankunft im Kloster geschehen! Sie dachte an den Moment, als sie in der Krypta über den verzogenen Reliquienschrein der seligen Hildegard strich, an den Anblick des kostbaren Pergaments, an die Begegnung mit Radulf von Braunshorn, der von Licht umleuchtet den Kapitelsaal betreten hatte und so mancher Nonne als Erlösung von der Zucht erschienen war. Doch welche Angst, welchen Schrecken hatte er seitdem verbreitet! Dann Margaretes Sturz im Badehaus nach dem Schlag auf den Kopf. Noch immer lag die Tat im Dunkeln.
    Später war Elysa in die Bibliothek gegangen, während Radulf von Braunshorn draußen vor dem Fenster den Bann gegen den Hagel sprach. Die vergiftete Ente, die ihr beinahe das Leben kostete, als sie ein Stück des Fleisches aß, das Margarete zugedacht war. Die Krypta, in die sie sich erneut begeben hatte und die beinahe ihr Grab geworden war. Wer hatte das Gift gemischt, wer die Krypta verschlossen? Dann endlich ihre Offenbarung vor Margarete und Jutta und der vergebliche Versuch, aus dem Kloster zu fliehen, um in jenem Moment zurückzukehren, als das Gottesurteil über Ida erging. Und nun Anna.
    Elysa erinnerte sich an den sehnsüchtigen Blick, den Anna aus dem Fenster des Handarbeitsraums geworfen hatte, am

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