Perlensamt
Spirituosenhändler und späteren Außenminister Ribbentrop, beliebt, sogar in Frankreich. Vermutlich brachte ihm diese Beliebtheit die vorzeitige Entlassung ein. Er hatte sich in Paris einen eigenen geheimen Zirkel aufgebaut. Drieu La Rochelle hatte zu seinen engsten Freunden gezählt, der bereits erwähnte Jean Luchaire, die Schriftsteller Jouhandeau, Chardonne … Mit großem Eifer hatte Abetz, nachdem er sich wie der Statthalter von Paris fühlen durfte, dafür gesorgt, daß die Judensterne verteilt und auch getragen wurden. Er hatte jüdische Palais’ ausgeräumt – angeblich, um die Kunst vor seinem Konkurrenten Rosenberg in Sicherheit zu bringen. Nicht wenige Bilder aus diesen privaten Sammlungen hingen plötzlich in der deutschen Residenz. Das alles vergaß man in der Zeit der großen Gnade nach ’45.
Nach seiner Haft kehrte Otto Abetz nach Deutschland zurück. Er wurde Mitglied der FDP. Sein Parteifreund Ernst Achenbach nannte ihn einen verkannten Menschen. Nach Gnade vor Recht also der Aufschrei gegen Verleumdung. Ergibt das einen Sinn? Je besser ich David und seine Familie kennenlernte, desto häufiger stellte ich mir diese Frage.
Aber: Man entkommt dem Monströsen nicht durch die Frage nach dem Sinn. Wenn ich den Andeutungen meiner Mutter Rosie Glauben schenke, war es die deutsche gedemütigte Seele, die sich in der Nazi-Zeit mit überschäumender Sehnsucht, beißendem Hunger und wütendem Groll einen vollen Magen verschaffte. Alltag, meinte Rosie, sei immer ein Drecksgeschäft. Sinnvoll war in all dem nur der Überlebenstrieb, der Rest eher ein Bild, ein indirektes Spiegelbild des Bösen. Sie war sich nicht sicher, ob es das Böse selbst war oder dessen Hybride. Natürlich sagte Rosie nicht Hybride. Sie sagte magische Mißgeburt , das ist ihre Sprache. Manchmal sagte sie auch Wechselbalg.
Rosie hat sich nie zu den Nazis direkt geäußert. Nie gesagt, was ihre Eltern getan oder gelassen hatten. Persönliche Anklagen oder Entlastungen sind für sie tabu. Sie selbst, ungefähr Mitte der Dreißiger geboren, war zu jung gewesen, um etwas getan zu haben. Sie erwähnte nur einmal, sie sei in einem undeutlichen Gefühl aufgewachsen, für das sie damals kein Wort gewußt habe. Sie nannte es im Nachhinein einen glühenden, unausgesprochenen Aberglauben, dessen Hauptmerkmale Verehrung und Hingabe gewesen seien. Sie ergänzte, daß nichts und niemand zu unterscheiden gewesen sei. Sie habe nie gewußt, wo ein Mensch beginnt und wo er aufhört. Das habe sie sehr beeindruckt, eine wogende Menge, die ineinanderfloß, Leute, die man gar nicht kannte, zerrten einen mit oder versuchten, in einen hineinzukriechen. Sie habe ständig eine fast religiöse Ahnung gehabt, die Erlösung sei nahe. Am Ende des Krieges hätten Ekelgefühle die der Geborgenheit ersetzt. Sie fühlte sich ertappt bei etwas, das zwar schön, aber übel gewesen sei. Erst als die Hingabe nachließ, wurde sie allmählich erwachsen. Der Inhalt entschlüsselte sich jetzt. Das war nach dem Krieg, Ende der vierziger Jahre. Anfang der fünfziger Jahre war Rosie kaum älter als siebzehn und – schwanger mit mir. Als sie in New York angekommen war, habe sie sich gefragt, ob diese Krankheit auf das neue Land übergreifen könnte. Sie hatte Verständnis dafür gehabt, daß jeder bis in die letzten Winkel der Gehörgänge, Nasenlöcher und unter den Augenlidern auf Mikroben, Bazillen, Viren überprüft worden war. Sie war davon überzeugt, daß die Auswirkungen des Aberglaubens uferlos waren. Jede Nische bot neue Gefahren.
Nachdem ich Davids Vater im Gefängnis besucht hatte, trafen David und ich uns wieder regelmäßig. An einem solchen Abend war Perlensamt gerade dabei, eine ausgezeichnete Flasche zu entkorken. »Mein Jahrgang«, feixte er. Er liebte diesen Verweis und konnte ihn nicht oft genug wiederholen. Später verdächtigte ich ihn, nur ein einziges Exemplar dieses Jahrgangs je besessen zu haben. Ich stellte mir vor, wie David die leere Flasche mit einem anderen Wein auffüllte, sorgsam darauf bedacht, das Etikett zu schonen. Allerdings waren die Weine wirklich exquisit, auch wenn das Etikett nicht der Wahrheit entsprechen mochte.
Ich hatte mir angewöhnt, fast jeden Tag nach dem Büro bei David vorbeizuschauen. Es waren erholsame Abende. David war ein Verehrer klassischer Musik, liebte vor allem Gesualdo und Purcell. Diese Leidenschaft fand sich wieder in seinen Erzählungen. Perlensamt paßte nahtlos in meine Vorstellung von Deutschland als
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