Perlensamt
dessen Namen ihm nichts gesagt haben konnte, suchte ich in seinen Zügen nach einer Ähnlichkeit mit David. Die Pressephotos hatten Alfred Perlensamt stets mit kurz geschnittenem Haar gezeigt, blond mit grauen Strähnen, groß, breitschultrig in Tweedjackett und Hemd mit Krawatte. Dazu der übliche Rest, der einen Mann zum dezent angezogenen Typus einer konservativen Kaste macht. Der Gefangene mir gegenüber hatte schlohweißes Haar, schulterlang und glatt. Sein heller Anzug hing formlos an ihm, zu groß, verknittert, mit ausgebeulten Knien. Er stand barfuß in Sandalen. Aus der rissigen Haut spreizten sich Fußnägel, lang wie Vogelklauen. Langsam kam er auf mich zu. Mit einer stummen Geste bat er mich, Platz nehmen, als sei er der Hausherr. Ich drückte den Knopf der Sprechanlage und bestellte Grüße von David. Er nickte, schwieg eine Weile und erkundigte sich dann, ob ich ihm chinesisches Essen besorgen könnte. Das Anstaltsessen sei vergiftet. Ihm bliebe nicht mehr viel Zeit. Ich versprach, es David auszurichten. Wieder mußte ich lange auf die Antwort warten.
»David kommt nie.«
»Aber er ist doch neulich noch dagewesen.«
Alfred Perlensamt schüttelt den Kopf. »Kein einziges Mal. Nie.«
Als ich David später davon erzählte, runzelte er die Stirn.
»Ich fürchte, es geht ihm sehr schlecht. Sein Gedächtnis funktioniert nicht mehr. Er scheint das, was er jetzt tut oder erlebt, nicht mehr einordnen zu können. Hingegen nehmen die früheren Jahre immer mehr Raum ein. Wie bei einem sehr alten Menschen. Aber er ist ja noch nicht alt. Er ist noch keine siebzig. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Meine Mutter fehlt ihm. Woher kommt nur der Verfolgungswahn, die Sache mit dem Gift?«
»Sie sind also gekommen, um mir Grüße von meinem Sohn auszurichten. Warum kommt er nicht selbst? Ich sage es Ihnen. Ich habe keinen Sohn mehr. Unser Sohn ist tot.«
Ich sagte ihm, daß David lebt und sehr tapfer sei. Er mache sich Gedanken um das Familienerbe, in erster Linie um die Sammlung natürlich. Alfred Perlensamt reagierte gar nicht darauf. Sein Blick war leer.
»Sammlung«, wiederholte er tonlos.
»Ja, die Bilder meine ich. David fühlt sich verantwortlich für die Sammlung, die Ihr Vater zusammengetragen hat. Möchten Sie, daß diese Sammlung eine Einheit bleibt? Bedeutet Ihnen das Vermächtnis Ihres Vaters etwas?«
»Vermächtnis meines Vaters.«
Er stellte nichts in Frage. Seine Sätze klangen hohl, als sagte ihm das, was er wiederholte, nichts.
»Herr Perlensamt, erinnern Sie sich an La Vague, Die Welle, das wunderbare Bild von Courbet?«
»Das Bild von Courbet.«
Er verstummte. Dann lachte er schrill. Er schien vollkommen verwirrt. Als hätte er den Verstand verloren. Gerade als ich mich verabschieden wollte, da ich dachte, es hätte keinen Zweck, mit diesem Mann weiterzusprechen, stellte er eine Frage.
»Waren Sie ein Freund von David?«
Ich bejahte etwas zu eifrig.
»Wenn Sie ein Freund von David waren, dann müssen Sie sich jetzt um alles kümmern. Um das Haus und den Nachlaß in meiner Mappe – und um meine Frau.«
»Herr Perlensamt, Ihre Frau …«
»Ist das zu viel verlangt? Wenn man mich schon grundlos festhält, sollte es doch möglich sein, daß sich jemand um meine arme Frau kümmert.«
Er lebte in einer anderen Welt, in einer, in der er seine Frau offenbar nicht erschossen hatte.
»Danke, daß Sie gekommen sind. Wie war Ihr Name?«
»Saunders, Herr Perlensamt, mein Name ist Martin Saunders.«
Alfred Perlensamt stand auf, nickte. Dann ging er wortlos. Als ich auf die Uhr sah, bemerkte ich, daß erst ein paar Minuten vergangen waren.
»Mona, ich – ich kann dir nicht helfen«, sage ich und lege auf. Eine merkwürdige Orientierungslosigkeit befällt mich, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen fortgezogen.Als hätte eine fremde Geschichte meine eigene ausgelöscht.
ZWÖLF
Otto Abetz, von 1940-1944 Hitlers Botschafter in Paris, wurde 1949 ebendort von einem französischen Militärgericht zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein intelligenter Mann, eloquent und verlogen, wie seine Autobiographie beweist. Der ehemalige Lehrer aus kleinbürgerlichen Verhältnissen hatte sich selbst kultiviert. Ehrgeizig und unermüdlich. Hector Feliciano unterlief ein weiterer Fehler, als er schrieb, Abetz hätte von seiner Strafe zehn Jahre hinter Gittern verbüßt. Der hausgemachte Diplomat wurde bereits nach fünf Jahren begnadigt. Er war, im Gegensatz zu seinem Chef, dem
Weitere Kostenlose Bücher