Perlensamt
Märchen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich den Eindruck, Zugang zu der Welt zu bekommen, die Rosie mir unterschlagen hatte, auch wenn ich mich mitunter wunderte über die Arroganz, mit der David auf Amerika blickte. Als würden wir alle mit dem Schießeisen denken. Aber da war noch etwas. Ich fühlte mich mehr und mehr angezogen von David, berührt an einer tief liegenden Schicht. Er führte mich an etwas heran, von dem ich gar nicht gewußt hatte, daß es existierte.
David wirkte an diesem Abend nachdenklich. Er wollte unbedingt meine Meinung hören, was er mit der Wohnung und der Sammlung anstellen sollte. Er wiegte die Flasche in seiner Hand und starrte auf das Etikett. Er müsse mir etwas sagen. Ich würde ihm das vielleicht übel nehmen. Es könne sogar eine Freundschaft aus den Angeln heben. Aber in seinen Augen sei es wichtig, zu Freunden ehrlich zu sein.
»Unser Familienname ist, wie du weißt, nicht Perlensamt.«
Er machte eine Pause.
»Ich – ich konnte es dir nicht sofort sagen. Ich bin in meinem Leben vorsichtig geworden. Manche reagieren auf dergleichen Offenheit mit – Entrüstung. Aber du bist mein bester Freund. Du mußt es einfach wissen. Unser Familienname ist Abetz. Mein Großvater war Hitlers Botschafter in Paris.«
Er fixierte immer noch das Etikett.
»Als dieser Wein in die Flasche kam, saß er noch im Knast. Er ist zu zwanzig Jahren verurteilt worden. Zehn Jahre davon hat er abgebüßt. Er war mit einer Französin verheiratet, der Tochter des namhaften Journalisten Jean Luchaire.«
Als David dieses Geständnis machte, wußte ich kaum etwas über Abetz. Ich wußte, daß er als Botschafter seine Finger in mancher Beschlagnahmung von Kunstgütern hatte – mehr wußte ich noch nicht. Das war also die höhere Charge, nach der ich vergeblich gesucht hatte. Nicht im Traum wäre ich auf Otto Abetz gekommen. David stellte die Flasche hin. Eine Weile saßen wir uns wortlos gegenüber. Dann stand er auf, ging fort und kam mit einer Art Dossier zurück. Er entnahm der Mappe ein Blatt und überreichte es mir.
Es war die Kopie eines Zeitungsartikels vom 6.5.1958 . Der ehemalige deutsche Botschafter in Paris, Otto Abetz, ist am Montag zusammen mit seiner Frau auf der Autobahn bei Langenfeld südlich von Düsseldorf tödlich verunglückt … Aus bisher ungeklärten Gründen geriet der Wagen über den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn und prallte dort auf der Überholspur mit einem entgegenkommenden Personenwagen zusammen … fing Feuer und brannte völlig aus. Frau Abetz war vorher aus dem Wagen geschleudert worden. Der Insasse des anderen Wagens, ein Diplomingenieur aus Hösel, wurde schwer verletzt. Der Artikel sagte mit keinem Wort, daß ein kleiner Junge Zeuge des Unfalls war.
»Es heißt, die Lenkung sei defekt gewesen. Die Großeltern hatten den Käfer gerade geschenkt bekommen von einem französischen Freund. Sie hatten viele Freunde in Frankreich, berühmte, sogar während der Besatzungszeit. Widerstandskämpfer waren ebenso darunter wie Faschisten und Kollaborateure. Es heißt, mein Großvater hätte dafür gesorgt, daß Kunstwerke nach Deutschland verschoben, Bücher verbrannt, Juden deportiert worden sind. Aber auch in den fünfziger Jahren hatten sie noch Freunde dort, obwohl Großvater 1949 von einem Militärgericht in Paris verurteilt wurde. Er hat Frankreich geliebt, schon lange bevor er dort Botschafter wurde und auch nach seiner Verurteilung noch. Mein Vater änderte seinen Namen. Er konnte es nicht ertragen, Abetz zu heißen. Er litt darunter. Unter dem gesamten Erbe, unter den Bildern auch.«
David wies mit einer Kopfbewegung zur nackten Wand.
»Er fragte sich immer wieder, ob er die Bilder verkaufen sollte. Für ihn war es ein Fluch, der Sohn von Otto Abetz zu sein. Er hat versucht, seine Herkunft zu vertuschen. Ich sehe das anders. Es braucht Würde und Mut, den unangenehmen Seiten der Familie zu begegnen, sich selbst, der Ähnlichkeit und der Geschichte ins Auge zu sehen. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen.«
David sagte nicht direkt, daß das, was an der Wand gehangen hatte, Raubkunst war.
»Hast du eine Idee, woher die einzelnen Bilder stammen?«
»Es ist unmöglich, mit meinem Vater darüber zu reden. Das Thema war immer tabu. Die Sammlung gehörte zu unserer Familie. Punkt. Von meiner Mutter habe ich erfahren, daß mein Vater nicht damit gerechnet hatte, die Bilder vorzufinden, als er diese Wohnung zum ersten Mal betrat. Erst als die Großeltern
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