Perlensamt
Versuch, etwas aufzuklären. Ich verstand Frauen eben nicht. Schon das Ansinnen, ihr bei der Kleiderauswahl behilflich sein zu sollen, war absurd gewesen.
Ich hatte nach der Party das Gefühl, Perlensamt anrufen zu müssen. Wir tauschten Belanglosigkeiten aus, bis ich ihn fragte, warum er kurz vor der Party untergetaucht sei. Ich erzählte ihm, daß seine Tante mich empfangen hätte. David war bei seinem Vater im Gefängnis gewesen. Er war so erschüttert nach Hause gekommen, daß er sich erst einmal zurückziehen mußte. Er war erst aufs Land, dann ans Meer gefahren. Nicht an das Meer, das Courbets Bild darstellte, nur an die Ostsee. Immerhin war es ein Wasser gewesen mit Horizont und Bewegung. Usedom, das lag um die Ecke und Polen dahinter. Polen. Ob ich verstünde? Er sei über die Grenze gegangen, zum ersten Mal in seinem Leben sei er in Polen gewesen, heimlich. Vorher habe er das nie gewagt. Er hätte sich auch noch nicht nach Frankreich gewagt. Aber das sei eine andere Geschichte.
Den alten Ländern des westlichen Europas hätte man nie die Seele rauben können. Polen dagegen – diese Demütigung durch die Nazis … Er, David Perlensamt, habe sich über die Grenze gedrückt, vorbei an den fröhlichen Händlern, die im Sommer Beeren und Pilze anbieten. Zu Fuß in Richtung Swinemünde. Wie ein ganz gewöhnlicher Wanderer durch den Wald. Nach zwei Stunden habe er kehrt machen müssen. Er habe es nicht ausgehalten, sich geschämt, sich elend gefühlt. Er konnte einfach nicht weitergehen. Ob ich diese Anfälle von Schuldgefühl kennte?
»Woher?«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Polen, na gut, nicht gerade ein glückbegabtes Land. Aber warum schämte er sich? Er war doch nicht in Polen einmarschiert.
Madame kommt herein und erkundigt sich, ob ich jetzt jeden Abend so ein Feuer machen will. Ich müsse daran denken, daß nicht mehr viel Holz da sei. Mißbilligung liegt in ihrem Ton. Wahrscheinlich denkt sie, Amerikaner hätten eine Neigung zur Verschwendung. Es sieht jedes Mal dramatisch aus, wenn das Papier Feuer fängt, die züngelnden Flammen die zarten Blätter wölben und dann zu Asche zerfressen. Ich will gerade noch einmal die Notiz überfliegen, die Alfred Perlensamt an mich schrieb, aber Madame steht schon wieder in der Tür.
»Monsieur, eine Dame verlangt Sie am Telefon, aus Berlin.«
»Er ist wieder aufgetaucht. Er hat einfach vorbeigeschaut. Er hat nach dir gefragt.«
Als ich Monas Stimme höre, möchte ich am liebsten sofort auflegen. Nicht nur die verdammte Verbrennungsaktion der Papiere, die ich schweren Herzens vernichte, trägt ein Stück des vergangenen Herbstes nach Brüssel. Monas Stimme verstärkt meinen Eindruck, daß diese Geschichte nicht zu beenden ist.
»Martin, bitte, sag etwas. Ich habe Angst vor ihm. Ich – habe einen Fehler gemacht.«
Einige Zeit nach Davids Party hatte ich tatsächlich den Entschluß gefaßt, Alfred Perlensamt im Gefängnis zu besuchen. Ich erinnere mich genau an diesen Morgen, dessen klare Luft und blauer Himmel mich an New York erinnerten, an meine Kinderzeit, den Herbst Upstate New York, der mit seinen leuchtenden, kontrastreichen Farben viel länger zu dauern schien und viel mehr Herbst war als irgendwo sonst. An diesem Morgen fiel mir ein, wie lange ich nicht mehr dort gewesen war, das letzte Mal Weihnachten vor drei Jahren. Aber einen dieser Herbsttage IN NYC oder Upstate New York hatte ich schon sehr viel länger nicht mehr erlebt, die satten, fast grellen Farben der Landschaft, den Geruch des von Sonne beschienenen Laubes. Plötzlich vermißte ich die Leichtigkeit meiner Heimatstadt. Ich wäre am liebsten für eine Stunde zurückgekehrt, nur um den Ton der Autohupen zu vernehmen, der träge durch die Straßenschluchten treibt, den Betrieb in Midtown, das weiße Rauschen im Hintergrund der Stadt. In Downtown, wo die Straßen sich biegen, als hätte das Schachbrett Manhattan im Wasser gelegen, hätte ich gern für zehn Minuten verharrt. Der einzige Distrikt, in dem mir die Stadt labyrinthisch erscheint. Ich brauche die Wolkenkratzer zur Orientierung.
Ich war durch die Schleuse der Strafanstalt Moabit gegangen, hatte meinen Personalausweis abgegeben und eine Hundemarke bekommen. Ein Beamter ließ mich durch drei schwer verschlossene Türen, bis ich in einem leeren Raum angekommen war. Vor mir eine Glasscheibe, dahinter ein weiterer Raum. Nach einigen Minuten erschien hinter dem Glas ein alter Mann. Während er da stand und den Besucher prüfte,
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