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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bongartz
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kurze Zeit, als er noch ein Junge war, Spaß am Zeichnen gehabt. Wirklich hoch begabt, das konnte man erkennen. Er hätte Geld damit verdienen können. Aber Geld interessierte ihn nie. Leider, sonst wäre er längst unabhängig gewesen von meinem Bruder. David war immer besessen von diesem Familienwahn. Er wollte meinem Bruder – imponieren. Mein Gott, er ist so ein Idiot. Er ist tatsächlich vollkommen auf diese spießige Familie fixiert.«
    »Nun, wenn ein Deutscher seines Alters zwei Generationen zurückgeht, hat er gute Karten, mehr als nur Spießer zu finden. Eher das große Drama, würde ich sagen. Täter und Opfer und alles, was sich daraus entwickelt hat. Eine richtige Folkloreindustrie, die mit Nachschub aus der ehemaligen DDR rechnen kann, soweit ich das zu beurteilen vermag. Mir scheint, man kann sein Leben damit verbringen, ein deutscher Enkel zu sein.«
    Sie war gerade dabei, eine von den nachbestellten Austern zu schlürfen, hielt inne, vergaß zu schlucken und begann zu husten.
    »Diese Theorie ist ja widerlich.«
    »Es ist weniger eine Theorie als eine – Bewegung.«
    »Ich bin nicht auf dem laufenden darüber, was Deutschland bewegt.«
    »Betroffenheitsadel, schon mal davon gehört?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte aufgehört zu husten und nahm noch einen Schluck Wein.
    »Betroffenheitsadel? Was soll das denn heißen?«
    »Salopp gesagt so etwas wie: Dabeisein ist alles, und wenn das Dabeisein nur durch Betroffenheit entsteht. Eigentlich merkwürdig, daß die Menschen in Deutschland immer noch dabei sein wollen, egal wobei, egal als was, Hauptsache dabei und nicht allein.«
    »Das ist ja absurd. Die Abetz sind mir gewiß nicht sehr sympathisch – aber es gibt in dieser Familie keine Opfer und keine Täter. Sie sind einfach nichts, nur Spießer, Nieten, eine Ansammlung von Möchtegerns.«
    Es mußte nach elf sein. Immer noch wurden die Tische neu gedeckt, immer noch kamen Gäste. Jeder Stuhl war besetzt. Edwige war verstummt. In ihr Verstummen erklärte ich, was David angezettelt hatte.
    »Er war auf Urlaub in Berlin, als seine Mutter erschossen wurde«, sagte sie tonlos.
    »Sie meinen, als Miriam Perlensamt erschossen wurde.«
    Sie sah mich an. Ich konnte nicht genau erkennen, ob sie sofort begriff, was ich wußte.
    »Der Schritt, sich von einer Familienlüge aus eine ganz andere Familie zusammenzudichten, ist nicht sehr groß. Das dürfte Sie nicht wundern.«
    »Ich habe doch gesagt, ich wundere mich nicht. Nicht im geringsten.«
    »Und es schmerzt Sie auch nicht?«
    »Sie stellen recht intime Fragen, junger Mann. Aber das haben Sie von Anfang an getan, und ich habe Sie nicht hinausgeworfen.«
    Sie war hart im Nehmen. Ich stellte mir ihre Anfangsjahre vor, allein in Paris. Ich sah Rosie auf der Überfahrt, billigste Klasse, Zehnerkoje. Selbst wenn sie sich mehr hätte leisten können, hätte sie es nicht getan. Sie war in der Lage, auszublenden, was sie nicht wahrnehmen wollte, souverän in jeder Art von Ignoranz. Edwige und Rosie hatten Ähnlichkeiten. Nur daß Edwige mehr Sinn für Stil besaß, europäischer auf mich wirkte, was auch immer das heißt. Als ich die Frage stellte, die mir schon lange auf der Zunge lag, merkte ich, daß sie von einer anderen Frage unterfüttert war, einer, die David gar nicht betraf.
    »Wer war Patrique Melcher?«
    Sie sah mich an, wie ihr Bruder mich angesehen hatte bei meinem Besuch im Knast. Ihr Blick kam von weit her, es war der eines Wildes, das nach langer Pirsch gestellt wird. Dann wiederholte sie, ebenso wie ihr Bruder meine Worte wiederholt hatte: »Patrique Melcher.«
    »War er ein Kollaborateur?«
    »Ein Kollaborateur«, echote sie. Sie strich sich durch die Haare, selbstvergessen, zögerlich. »In anderen Zeiten hätte man ihn möglicherweise einen Kollaborateur genannt.«
    Der Kellner schenkte uns den Rest aus der Flasche nach und fragte, ob Madame eine neue wünsche. Madame nickte. Dann sah sie sich im Raum um, als gelte es festzustellen, ob der dunkelbraune Ölanstrich auch weiterhin an den Wänden klebte, die Deckenlampen in der Verankerung blieben, die Hutablagen an der Wand.
    »Patrique Melcher«, wiederholte sie noch einmal.
    »Ist er Davids Vater?«

SECHSUNDZWANZIG
    Ich hatte Rosie nie nach meinem Vater gefragt, und Rosie hatte ihn von sich aus nie erwähnt. Wozu reden? Die Vergangenheit war identisch mit der Gegenwart, nur älter. Ich hatte nie das entscheidende Wort herausgefunden, um den Bann zu brechen. Vielleicht hätte Rosie ein

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