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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bongartz
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einziges Mal in ihrem Leben vor meinen Augen gestutzt – außer Fassung gebracht durch eine Losung. Vielleicht hätte ich die Vergangenheit zum Flackern bringen können, wenn ich nur den Namen meines Vaters ausgesprochen hätte. Aber ich wußte seinen Namen nicht. Nicht einmal den.
    Edwige hatte aufgehört zu essen. Drei Austern waren übrig. Eine davon hatte sie mitten in meiner Frage auf dem Teller abgelegt und nicht wieder aufgenommen. Zwei lagen noch auf der Platte. Die geeisten Bergkämme darauf tauten und verwandelten sich in ein eiskaltes Meer. Die toten, halb aufgebrochenen Meeresfrüchte schwammen unangetastet darin, ein riesiger Krebs mit handgroßen Scheren, ein Dutzend Seeschnecken, ein zur Rosette erstarrter Reigen pinkfarbener Krevetten, ein Napf mit Nordseekrabben, von Miesmuscheln und Tang umlagert. Edwige atmete flach. Sie trank einen Schluck Wein. Dann – das kannte ich schon – riß sie sich plötzlich zusammen. So leicht war diese Frau nicht zu entmutigen, vor allem nicht durch Dinge, die unabänderlich waren.
    »Patrique Melcher war ein kleiner Ganove«, sagte sie schlicht. »Ich glaube nicht, daß er aus Paris war. Eher aus dem Elsaß, wie viele Leute mit diesen halbfranzösischen Namen. Ich wohnte damals hier um die Ecke in einer chambre de bonne. Ich hatte eine Stelle in einer Gärtnerei in Versailles gefunden. Die Lehrlinge wurden mehr getreten als gefördert. Aber die Firma bekam gute Aufträge von vermögenden Leuten in der Umgebung. Wenn man die Augen aufhielt, konnte man sehr viel lernen. Sie hatten Ahnung von Böden und Chemie. Sie zogen die besten Pflanzen der ganzen île de France.« Sie lächelte. »Heute tue ich das. Es war anstrengende körperliche Arbeit. Aber ich wollte reüssieren, ach was, ich mußte! Ich hätte es mir nicht leisten können, nach Deutschland zurückzugehen. Ich wäre dort erstickt in den fünfziger Jahren. Ich wollte Schönheit, sonst nichts. Keine Moral, keine gesellschaftliche Stellung. Nur zwecklose Schönheit. Wohin hätte ich sonst gehen können außer nach Paris? Auf den Orient kam man damals nicht. Ich dachte nicht an die Höhenzüge von Afghanistan, an das Licht von Tanger, an die Strände von Vietnam. Da war immer noch Krieg, Napalm, Tod und Vernichtung. Überlegen Sie mal, China in dieser Zeit! Sie machen sich keinen Begriff davon, Sie weit gereister, auf zwei Kontinenten lebender junger Mann, wie eingeschränkt die Welt damals war – für eine junge Frau. Wie soll man das heute erklären? Man legte den Mädchen gerade wieder Handschellen an. Den Trümmern in Deutschland folgten diese Ordnungsmanie und diese unerträgliche Moral. Hier regierte la beauté. Sie dringt in Frankreich auch durch Armut und Dreck. Ich lernte schnell, daß Schönheit, wenn sie Bestand haben soll, von Disziplin erobert werden muß. Nicht selten ist sie die Frucht von Kälte – oder doch wenigstens von kühlem Verstand. Le Nôtre war mein Vorbild, nicht Pückler, nicht Lenné. Ich schuftete tagelang, aber manchmal mußte ich abends einfach raus. An solchen Abenden wollte ich mich gehen lassen. Disziplin ohne Gnade strengt unendlich an. Ich brauchte eine Nacht voll ausschweifendem Leben, als gäbe es keinen Anfang, kein Ende, keine Flucht, kein Ziel. Ich suchte das Gegenteil des Kalküls, mit dem ich überlebte.«
    Sie ging nur samstags aus. An allen anderen Tagen außer sonntags mußte sie um fünf Uhr aufstehen, im Sommer um vier. In Paris, in dieser Gegend, ging man samstags zum Essen aus und danach in eine billige Bar. Sie nahm einen Schluck und drehte das Weinglas in ihrer Hand, als läse sie darin, was sie weiter zu sagen hätte.
    »Wenn man sich das Essen am Samstag nicht leisten kann, beläßt man es beim Trinken. Das geht auch. Das war damals so. Heute ist es fast wie damals. Die Leute hier sind arm.«
    Sie machte eine Pause. Ihr Ton war bitter.
    »Bald werden viele Einwohner von Paris so arm sein wie die Leute in diesem Viertel. Abgewrackte Existenzen. Typen, die für ein paar Francs ihre Schwester verschachern. Hundefänger. Mädchen, die früher Nutten als geschlechtsreif werden. Weißafrikanische Mütter, die nach ihrem ersten Monatsblut schwanger geworden sind und ihre frisch geborenen Babies meistbietend an reiche Amerikanerinnen verkaufen. Ich war zwar keine Maghrebinerin, auch keine vierzehn mehr. Trotzdem hatte es mich erwischt. In einer Samstagnacht. Ich habe mich vergessen. Als ich erfuhr, daß ich schwanger war, habe ich zuerst an illegale Abtreibung

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