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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bongartz
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darstellt. Zu kompensieren ist die unaufhaltsame Ausdehnung der Grenzen nur, indem man so tut, als gäbe es die Mauer noch. Für diese Leute ist das Zentrum immer noch auf dem Kudamm, während Mitte und Prenzlauer Berg indiskutable Gefilde in der Nähe von Polen sind.
    Als ich aus dem Metroschacht trat, war ich verblüfft. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß dieses Paris existierte. Ich hatte von den Einwanderern in den Außenbezirken gehört und gelesen, die zum sozialen Brennpunkt geworden waren. Als wollten sie eine Metapher mit Wirklichkeit füllen, zündeten sie an, was brennbar war. An den Rand der Stadt Gedrängte, die sich und ihrem Notstand Geltung zu verschaffen suchten. Das hier war anders. Auch hier – Immigranten, die meisten von ihnen schwarz. Aber hier machte niemand auf sich aufmerksam. Die nordafrikanischen Jungs nutzten den Lärm und die Überfüllung in den Straßen und Bars als schützendes Dickicht. Jeder ging seinen stillen Plänen und Geschäften nach, die es erforderten, so schnell wieder zu verschwinden wie man aufgetaucht war. Merkwürdig, daß Edwige ausgerechnet hier ein Restaurant ausgesucht hatte.
    Ich war zu früh. Also beschloß ich, mir das Haus anzusehen, von dem aus Patrique Melcher an Alfred Perlensamt geschrieben hatte. Es war ein heruntergekommenes Gebäude. Der Putz bröckelte von der Fassade. Vor der Toreinfahrt lagen Müllsäcke, die ein Tier oder vielleicht auch ein Mensch gefleddert hatte. Die offenstehende Haustür entblößte ein düsteres Treppenhaus mit Durchgang zum Hof. Die Wände hatten Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte keinen neuen Anstrich bekommen. Ich ging ein paar Schritte hinein. Es stank, eine ranzige Mischung aus Mensch, Tier, Verrottung und Schimmel. Alle Arten von Dreck lagen übereinander. Aus dem Müll quollen Dünste von billiger Nahrung, Schmalz und Innereien durch die feuchte Kälte. Ich kannte solche Gerüche aus meiner Kindheit. Ich hatte einen Freund in Queens gehabt. Seine Eltern waren Russen aus Leningrad, und obwohl die Brighton Beach Avenue nicht in Leningrad lag, stank es dort genauso nach Armut und Resignation wie in der Rue de TÉchiquier. Ich war nur ein oder zwei Mal dort gewesen, aber Dimitri hatte diesen Geruch in den Kleidern gehabt. Man roch ihn kommen. Ich fragte einen alten Mann, der an den Briefkästen hantierte, ob ein Patrique Melcher hier wohnen würde. Ich tat es aus einer Laune heraus, nicht im entferntesten rechnete ich mit einer brauchbaren Antwort. Schließlich lag die Geschichte mit den Briefen mehr als vierzig Jahre zurück. Der Mann drehte sich langsam um. Er trug eine Art Blaumann, darunter einen grauen Pullover aus grober Wolle. Aus dem ausgeleierten Halsausschnitt lugte ein T-Shirt hervor. Es war einmal weiß gewesen. Jetzt hatte es die Farbe des Pullovers angenommen. Der Mann war jünger, als ich seinem gebückten, dünnen Körper nach angenommen hatte. Als er mir gegenüberstand, grinste er breit, ohne die Position der kalten Kippe in seinem Mundwinkel zu verändern.
    »Boche?« fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Amerikaner.«
    Er kratzte sich am Hals, so langsam, wie er sich herumgedreht hatte. Ich sah verstohlen auf die Uhr. Inzwischen mußte ich mich beeilen, wenn ich vor Edwige das Restaurant betreten wollte, was die Höflichkeit gebot. Der Mann musterte mich und schien mich keineswegs so einfach wieder gehen lassen zu wollen.
    »Patrique Melcher, der hat damals viele deutsche Freunde gehabt.«
    »War er ein Kollaborateur?«
    »Warum nicht? Ein Collabo! Ein ganz besonderer Collabo, Ami.«
    »Hören Sie, ich bin verabredet, tut mir leid, ich wollte nur mal nachfragen, ob er vielleicht noch hier lebt. Wäre ein Zufall gewesen. Machen Sie’s gut.«
    »Hey, Ami, wie heißen Sie?« rief er mir hinterher.
    »Nichts für ungut«, gab ich zurück und machte mich davon.
    Ich war kaum eine Straße weiter, da wurde ich eingeholt. Hechelnd, die Kippe klebte dem Mann immer noch an der Lippe, tippte er mit spitzem Finger gegen meine Schulter. Unangenehm berührt blieb ich stehen. Ich kann es nicht leiden, wenn Fremde mich berühren. Endlich nahm der Mann den Stummel aus dem Mund und warf ihn fort.
    »Was ist, Ami, wenn ich dich hinbringen würde?«
    Ich wurde nervös. Edwige wartete wahrscheinlich schon im Restaurant.
    »Ich hab es mir anders überlegt. Ich will ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Vielen Dank.«
    Als ich mich davonmachte, hörte ich schallendes Gelächter in meinem Rücken. Mit hängender Zunge

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