Perlensamt
Assistentin von Henriette gearbeitet hatte, war frisch promoviert und wurde für die Provenienzen eingestellt. Keine Sekunde zweifelte ich daran, daß sie für diesen Job bestens geeignet war, auch wenn mir ihre Ausführungen manchmal weiblich sentimental und übertrieben vorkamen. Wahlverwandtschaft – was sollte das sein? Eine neue Obsession wie Weltschmerz, Waldsterben oder Meereslust? Betroffenheitsadel – der neue deutsche Zeitgeist vielleicht?
»Unfug«, antwortete ich.
»Wie bitte?«
»Das mit deinen Wahlverwandten ist Unfug.«
»Ist es nicht. Familienfehden haben bittere Folgen. Sie entstehen nicht selten aus einem unterdrückten Gefühl von Schuld. In Deutschland ist das nach der NS-Zeit kein privates, sondern ein historisches Problem. Ein Politikum. Über begangene Taten herrscht Schweigen. Um zu läutern, verschiebt man und schlägt sich imaginär auf die gegenteilige Seite: Das meint Wahlverwandtschaft.«
»Wo hast du denn den Quatsch gelesen?«
Ihre Stimme klang plötzlich streng. »Du hast doch keine Ahnung, was in unserem Land geschah.«
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob es Sinn machte, ihr Margaux’ Geschichte zu erzählen. Aber wofür war diese Frau, die ihren Schmerz unter Verschluß hielt, ein Beweis? Ich hielt den Mund. Mona dozierte weiter. Sie sah unangenehm beflissen aus, wie ein Blaustrumpf von der Heilsarmee.
»Es ist unsere Chance, wenn denen der Schlamm bis zum Hals steht und die kurz vor dem Ersticken sind. Selten genug kommt das vor. Aber es passiert. Wenn einer es plötzlich nicht mehr aushält, haben wir die Pflicht, aufzuklären. Es kann sein, daß durch solch einen Kollaps in einer Familie bei uns etwas auf dem Tisch landet, das sonst noch weitere Jahrzehnte oder Jahrhunderte gehütet worden wäre, zum Beispiel das Bild, das uns gerade angeboten worden ist. Dessen müssen wir uns bewußt sein.«
»Wer soll es denn nicht mehr aushalten? Die Verantwortlichen für den Kunstraub sind doch längst tot!«
»Die Nachkommen nicht. Und wir sind schließlich nicht in der Schweiz. Die Bundesregierung schützt diese Verbrecher nicht.«
»Wieso nennst du die Nachkommen Verbrecher?«
»Weil sie verpflichtet wären, die Kunst zurückzugeben an die rechtmäßigen Eigentümer.«
»Und wenn die nicht wissen, wer das ist?«
»Dann müssen sie sich darum kümmern. Du begreifst das alles überhaupt nicht. In der Nazizeit ward ihr ja auch ganz schön weit weg.«
»Wen meinst du denn mit ihr?«
»Wie naiv ihr seid. Als Amerikaner kann man vermutlich nicht anders.«
»Du hast doch nicht mehr alle Murmeln in der Schüssel. Verdammte Moral. Übereifer. Ich war noch gar nicht geboren! Und du, soweit ich das überblicke, auch nicht. Trotz deiner Zugehörigkeit zu diesem Land und der physischen Nähe scheint mir deine Expertise ein bißchen weit hergeholt.«
»Wenn du dann mit deinen Klunkern durch bist, wärst du so reizend, deine fachliche Kompetenz auf einen Courbet zu lenken, dessen Überprüfung bei mir noch unvollendet ist?«
»Ich bin kein Provenienzforscher mehr.«
»Aber du hast eine Nase für Provenienzen. Es scheint, als könntest du die Spuren riechen. Du bist wirklich talentiert. Außerdem habe ich heute noch einen Auswärtstermin und …«
»… ich auch.«
Ich schnappte meine Aktentasche und war auf und davon.
»Das ist nicht gerecht«, rief mir Mona nach, als ich schon auf der Straße stand. Sie strampelte und ruderte mit der Hand und versuchte, aus dem Parterrefenster nach meinen Haaren zu greifen. Sie konnte reizend sein, wenn sie nicht dozierte. Leider dozierte sie oft.
Die hochsommerliche Hitze verschlug mir den Atem. Ich stieg auf mein Fahrrad und träumte von der winterlichen Abendsonne auf Coney Island. Menschenleerer Strand. Leckende Wellen. Das Wasser leuchtet phosphoreszierend. Ich fühle die groben Körner unter den Fußsohlen, die Feuchtigkeit hat sie zu einer festen Fläche verbacken. Die Oberfläche fühlt sich rauh an wie Gewebe, dazwischen harte Muschelkanten in Rosa, zerbrochenem Weiß und Schwarz. Immer schon waren alte Juwelen meine Leidenschaft. Ich konnte die Gunst kaum fassen, als D.D. Miles mir nach meinem kurzen Gastspiel als Provenienzforscher die Leitung der Juwelenabteilung anbot. Für diesen Job hatte ich gern den Umzug nach Berlin in Kauf genommen.
Unvermittelt fand ich mich wieder vor dem schmiedeeisernen Portal und starrte auf die Idylle, in deren Hintergrund sich eine Tragödie ereignet hatte.
DREI
Der Anblick von dem ganzen Zeug
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