Perlentöchter
spürte einen Anflug von Eifersucht.
»Sie hat während des ganzen Kriegs auf mich gewartet, aber als ich zurückkam, habe ich eine andere kennengelernt.« Roger errötete wieder, ein tiefes Rot, das ihn noch attraktiver machte und sogar noch mehr die Blicke der Mädchen auf ihn lenkte, die an ihnen vorübergingen. Helen hätte ihnen am liebsten gesagt, sie sollten ihn in Ruhe lassen, dies sei ihr Bruder.
»Ich wollte Judith schreiben, dass ich unsere Beziehung beenden muss. Aber dann erreichte mich vorher ein Brief von ihr, in dem sie erklärte, sie sei an Tuberkulose erkrankt und habe vollstes Verständnis, wenn ich mich von ihr trennen möchte.«
Helen sog entsetzt die Luft ein. Das erinnerte sie stark an einen Film, den sie im Kintopp gesehen hatte und in dem eine Frau aus Angst, verlassen zu werden, eine Krankheit vortäuschte, um ihren Freund zu halten.
»Natürlich wäre ich dazu nie fähig.«
»Was wirst du tun?«
Roger senkte den Blick auf seine Schuhe. »Was ich getan habe, meinst du? Ich habe sie geheiratet. Erst letzte Woche. Es tut mir leid, aber wir haben niemanden zur Hochzeit eingeladen. Nicht unter diesen Umständen.«
Welche Umstände?
Roger sah immer noch auf seine Schuhe. »Du bist ein erwachsenes Mädchen, Helen. Denk doch mal nach. Meine Frau erwartet ein Kind. Es hat sehr schnell geklappt, sagt sie zumindest.«
»Aber du liebst sie nicht.«
»Ich habe sie gern.«
»Und was ist mit dem Mädchen, dass du wirklich liebst?«
Roger zuckte mit den Achseln. »Ich musste sie gehen lassen.«
Helen war nach Weinen zumute. Danach, das Gesicht in der Schulter ihres Bruders zu vergraben und ihm zu sagen, dass alles gut werde. Aber es konnte nicht gut werden. Wie furchtbar. Wie furchtbar, jemanden zu heiraten, den man nicht liebte.
»Lass dir das eine Lehre sein, Schwesterchen.« Roger drückte sie wieder kurz an sich. »Lass dich später nicht von einem Mann ausnutzen, wenn du ein bisschen älter bist. Sorge dafür, dass du heiratest, bevor du solche Sachen machst.«
Nun war es Helen, die rot wurde. »Ehrlich, Roger, als würde ich zu dieser Sorte Mädchen zählen!«
Sie unterbrach sich, da ihr bewusst wurde, dass das, was sie eigentlich sagen wollte, vielleicht kein gutes Licht auf ihre neue Schwägerin werfen würde.
»Wann werde ich sie kennenlernen?«
»Bald. Und jetzt lauf los, sonst kommst du zu spät zum Abendbrot. Ich melde mich wieder. Wahrscheinlich komme ich dich irgendwann in deinem neuen Krankenhaus besuchen. Pass auf dich auf, Helen.«
Und damit fuhr er los und verschwand hinter einer Auspuffwolke.
Lustigerweise betrachteten die anderen Mädchen Helen danach mit neuem Respekt, und als eine Mitschülerin von Helens »attraktivem Freund« sprach, verzichtete sie darauf, es richtigzustellen.
31
Helen war nicht die einzige junge Frau in den Nachkriegsjahren, die plötzlich eine ihr bis dahin unbekannte Freiheit entdeckte. Aber für eine Zwanzigjährige, die frisch aus dem Internat kam und wenig Erfahrung mit dem wahren Leben hatte, ob während der Schulzeit oder während der Ferien, war das London der späten Vierzigerjahre eine wahre Offenbarung.
Das fing schon damit an, dass die Frauen Hosen trugen! Tante Phoebe machte keinen Hehl aus ihrer Ablehnung von »Frauen in Beinkleidern«, zumal sie selbst A-förmige Röcke aus marineblauem oder braunem Tweed bevorzugte, die sie auch Helen empfahl. Darum war es kein Wunder, dass Helen die Frauen im Bus und auf den Straßen dieser erstaunlichen Stadt mit einem Neid beobachtete, der eher Neugier glich.
»Hey, was gaffen Sie so?«, sagte eine Frau in einer knallroten Bluse und einer grauen Hose und mit etwas, das wie die Kopfbedeckung der einheimischen Frauen auf Borneo aussah.
Helen ging rasch weiter und nahm sich vor, die Leute nicht mehr so anzustarren, etwas, was Tante Phoebe ihr ständig vorhielt, seit Helen in England war und versuchte, sich einzugewöhnen. Nun kam es ihr wieder vor, als wäre sie ganz neu angekommen. Dieser Lärm! Diese lauten Stimmen und dieser ständige Verkehr! Es war herrlich. Einfach herrlich.
Schließlich setzte sie ihren schweren, braunen, verbeulten Koffer ab, den ihre Tante im Keller unter dichten Spinnweben ausgegraben hatte, und starrte an dem Gebäude vor ihr hoch. Das war es also! Das King’s College Hospital in Dulwich, einem Stadtteil im Süden Londons. Allein der Klang weckte in Helen das Bedürfnis, den Namen wieder und wieder in ihrem Kopf zu sagen, um sich zu vergewissern, dass sie
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