Perlentöchter
sie damit beschäftigt, Ballkleider nähen zu lassen, und beschwerte sich, dass sie Ballonstoff verwenden musste, weil echte Seide knapp war.
Helen kam sich allmählich ausgeschlossen vor.
»Wenn mein Vater und meine Tante doch nur ein Einsehen haben würden wegen der Kunstschule«, beklagte sie sich bei Miss Diamond.
Ihre Lehrerin, die gerade für die nächste Klasse Farbe auf einer Untertasse anmischte, hielt kurz inne. »Ich bin ganz deiner Meinung. Es ist jammerschade, aber vielleicht ändern sie noch ihre Meinung.«
»Das bezweifle ich. Meine Wahl beschränkt sich auf Hauswirtschaft und Krankenpflege. Anscheinend halten beide dies für die einzigen Berufe, die sich für eine wohlerzogene junge Dame eignen.« Helens Stimme nahm am Ende des Satzes einen affektierten Ton an, und beide mussten lachen.
Der Kunstunterricht war eine willkommene Abwechslung von der ganzen Büffelei für die Prüfungen, die sich letzten Endes als leichter erwiesen, als Helen gedacht hatte, und sie war recht zuversichtlich, dass sie bestanden hatte, selbst die vermaledeite Algebra.
Es würde noch ein paar Wochen dauern, bis die Ergebnisse kamen, und obwohl der Unterricht fortgesetzt wurde, waren die meisten Mädchen nur halbherzig bei der Sache und unterhielten sich lieber über ihre Zukunftspläne. Viele hofften, dass die Ballsaison wieder beginne. Es hatte den Anschein, dass sie ihre berufliche Laufbahn von den Männern abhängig machten, die sie heiraten würden. Helen hatte sich über eine Heirat nie groß Gedanken gemacht und fragte sich nun, ob sie damit anfangen sollte.
Und dann eines Tages klopfte es wieder an die Tür des Klassenzimmers, und Helen wurde in das Büro der Direktorin gerufen. Es war fast so wie damals, als ihr Vater gekommen war, bloß dass dieses Mal keine hünenhafte Gestalt am Fenster stand und ihr mit den Händen in den Taschen den Rücken zukehrte, sondern ein großer, schlanker Mann in khakifarbener Uniform sie ansah mit Augen wie Cary Grant.
»Roger!«, schrie sie und stürzte auf ihn zu.
Er versuchte, sie aufzufangen, was jedoch misslang, und sie fiel auf den Boden. »Dummes Ding«, sagte er lachend und half ihr auf. Von der Direktorin war ein Seufzen zu vernehmen, aber es schien eher belustigt zu klingen als verärgert.
»Ich wusste, dass du nicht tot bist!«
Sie zog an seinem Revers, damit er sie auf den Arm nahm, aber vergeblich. »Hast du meine Briefe bekommen?«
»Was für Briefe, Schwesterchen?«
»Die Briefe, die ich dir geschrieben habe. Jeder hat gesagt, dass ich mir die Mühe sparen kann, weil du verschollen warst, aber ich habe gewusst, dass du dich nur versteckst.« Helen wurde bewusst, dass sie wie das Kind klang, das sie früher war, als sie angefangen hatte, ihrem Bruder zu schreiben, und sie errötete.
»Tatsächlich liegst du damit nicht weit daneben.« Er sah zu der Direktorin. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte. Haben Sie etwas dagegen?«
»Keineswegs. Ich möchte sie auch gerne hören. Ihr tapferen Soldaten habt großartig gekämpft.«
Und so kam es, dass die Direktorin, Helen und ihr attraktiver Bruder eine außergewöhnliche halbe Stunde verbrachten, während draußen viele von Helens Mitschülerinnen vorbeigingen und verstohlene Blicke auf den großen jungen Mann warfen, der neben ihr saß, sicher nicht ohne zu rätseln, ob er ihr Verehrer war. Roger war, so erfuhren sie und die Direktorin, tatsächlich vor Norwegen abgeschossen worden, aber das war erst der Anfang der Geschichte. »Wir hatten ein Schlauchboot an Bord, und wir hatten Glück, dass wir über dem Meer abgestürzt sind. Einer der Männer allerdings …«
Er unterbrach sich kurz, bevor er fortfuhr. »Einer der Männer hatte nicht so viel Glück, aber dem Rest von uns ist es gelungen, rechtzeitig herauszuspringen und in das Schlauchboot zu klettern. Wir haben stundenlang mit den Händen gepaddelt, bis wir die Küste erreichten. Und dann sind wir erschöpft an Land gekrochen.«
Helen konnte nicht umhin, ihn zu unterbrechen. »Wie habt ihr euren Durst gestillt?«
Roger wurde rot. »Mit Natursäften.«
Die Direktorin hüstelte, um Helen zu verstehen zu geben, dass sie keine weiteren Fragen in diese Richtung stellen sollte.
»Glücklicherweise wurden wir von ein paar einheimischen Fischern entdeckt. Sie haben uns in ihre Hütten mitgenommen und uns zu essen gegeben. Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert wir waren. An einem gewissen Punkt dachten wir bereits, wir wären ein Fressen für die
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