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Perlentöchter

Perlentöchter

Titel: Perlentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Corry
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Geier.«
    »Ein Fressen für die Geier?«
    »Todeskandidaten«, erklärte die Direktorin. »Sie dachten, sie müssten sterben, Helen. Bitte, fahren Sie fort.«
    »Wir hielten uns dort ungefähr zehn Tage versteckt, bis es plötzlich hieß, die Deutschen suchen nach uns. Verstehst du, sie haben gesehen, dass unser Flugzeug abgeschossen wurde, und sie wussten, dass ein Teil der Besatzung überlebt hatte. Den Norwegern wurde mit Erschießung gedroht, wenn sie dem Feind Unterschlupf gewährten (das bedeutet verstecken, Helen). So hatten wir natürlich keine Wahl.«
    Die Direktorin nickte. »Natürlich.«
    »Was habt ihr getan?«, piepste Helen.
    »Aufgegeben«, antworteten die Direktorin und Roger im gleichen Atemzug.
    »Aber dann haben die Deutschen euch ja gekriegt.«
    »Ja. Wir konnten nicht das Risiko eingehen, dass jemand unseretwegen erschossen wird.«
    Helen musste flüchtig an das Blut auf dem Boden in Tante Phoebes Badezimmer denken.
    »Danach wurden wir in einen Zug verfrachtet und nach Deutschland in ein Gefangenenlager gebracht.«
    Ihr Bruder schilderte das alles in einem so sachlichen Ton, dass es Helen beinahe vorkam, als hätte er es gar nicht selbst erlebt.
    »War das nicht schrecklich?«, fragte die Direktorin.
    Roger zuckte mit den Achseln. »Es war nicht gerade ein Zuckerschlecken. Aber wir haben es überstanden.«
    Sein Gesicht wirkte nun düster, bemerkte Helen, und verschlossen, wie früher als Kind auf Borneo, wenn ihre Mutter ihn gefragt hatte, wo er und Geoffrey sich im Dorf herumgetrieben hatten. »Und, Helen, was machen wir nun mit dir? Ich habe gehört, du hast dir die unsinnige Idee in den Kopf gesetzt, die Kunstschule zu besuchen. Mit Kunst wirst du dir nicht deinen Lebensunterhalt verdienen können, weißt du.«
    Helen ertappte sich dabei, dass sie wieder rot wurde. »Aber ich liebe das Malen. Und Miss Diamond sagt, ich habe Talent. Außerdem war unser Urgroßvater ein Maler.«
    »Er war finanziell unabhängig.« Roger legte den Arm um sie und drückte sie kurz an sich. »Ich fürchte, Helen, diesen Luxus kannst du nicht mehr genießen. Durch den Krieg hat sich alles geändert, und nun ist Mutter …«
    Er ließ den Satz unvollendet, und die Direktorin hüstelte wieder. »Also, Helen, was soll es werden? Hauswirtschaft oder Krankenschwester?«
    Helen entging nicht, dass Roger leicht humpelte, als er in die Ecke ging, um einen Stuhl zu holen. Es gab wohl einige Dinge, vermutete sie, die er ihr erklären musste. Aber es war klar, dass ihm jemand mit seinem Bein geholfen haben musste. Es hatte auch jemand versucht, ihrer Mutter zu helfen. Und jemand musste Tante Phoebe helfen, ihre Wunden zu versorgen, wenn sie auf den Boden blutete. Vielleicht konnte sie auch helfen.
    »Krankenschwester«, antwortete sie mit mehr Begeisterung, als sie spürte. »Ich möchte gerne Krankenschwester werden.«
    »Hervorragend.« Die Direktorin schien sehr erleichtert zu sein. »Eine Bekannte von mir hat im Londoner King’s College Hospital gelernt. Das ist ein erstklassiges Krankenhaus in Denmark Hill. Ich werde für dich Erkundigungen einholen.«
    Später, nach zwei Tassen Tee, überquerte Roger mit ihr den Schulhof zu einem kleinen Auto, das, wie er ihr erzählte, Vater ihm nach seiner Rückkehr vor zwei Monaten gekauft hatte. Zwei volle Monate? Warum war er nicht eher gekommen, um sie zu besuchen?, fragte Helen sich. Vielleicht hatte er sich wegen des Beins behandeln lassen müssen, das ihm sichtlich Schwierigkeiten bereitete.
    »Alles in Ordnung, Roger?«
    Er lächelte traurig zu ihr herunter. »Du bist ein aufmerksames kleines Ding, nicht wahr? Oder besser gesagt, ein großes Ding.« Er kniff sie zärtlich in die Wange. »Ich habe tatsächlich das eine oder andere kleine Problem.«
    »Erzähl es mir«, sagte sie im Bemühen, erwachsen zu klingen, nachdem sie sich im Büro der Direktorin wohl etwas kindisch verhalten hatte.
    Roger zuckte mit den Achseln. »Da ist dieses Mädchen. Judith.«
    Er verstummte.
    »Erzähl weiter«, sagte Helen und versuchte, so selbstbewusst zu klingen wie die Heldin, die Beth und sie letzten Monat im Kintopp gesehen hatten. Helen hatte eine Ewigkeit gebraucht, bis sie kapierte, dass mit Kintopp das Lichtspielhaus gemeint war, und nun war sie erpicht darauf, mit ihrem neuen Wissen zu glänzen.
    »Ich habe Judith kurz vor meiner Einberufung kennengelernt, und sie hat mir ins Lager geschrieben.«
    Warum waren die Briefe von dieser Judith angekommen und die von Helen nicht? Sie

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