Perlentöchter
sie vielleicht einfach mit diesem Thomas durchbrennen. Helen war schlecht. Und dann begegnete sie am Nachmittag zufällig Thomas’ Mutter in Ealing und ertappte sich dabei, dass sie ihr von dem Tagebuch erzählte. Schließlich ging es Lynne als Thomas’ Mutter genauso viel an.
»Das ist ja schrecklich.« Lynne funkelte sie an, als wäre das Helens Werk. Sie war eine prüde Frau mit schmalen Lippen, die Thomas, ihr einziges Kind, erst sehr spät bekommen hatte. »Mein Sohn hat eine Zukunft, und die wird er sich bestimmt nicht auf diese Weise selbst verbauen.«
Helen spürte eine Woge der Empörung. Wollte Lynne damit andeuten, dass Helens Tochter nicht gut genug war für ihren Sohn?
Wie auch immer, jedenfalls war es nun zu spät. Lynne marschierte nach Hause, fest entschlossen, sich ihren Sohn »vorzuknöpfen«, während Helen sich auf Carolines Rückkehr vorbereitete. Bob und sie holten ihre Tochter vor der Schule ab, wo der Reisebus die Kinder nach der Exkursion absetzte, und kaum war Caroline hinten eingestiegen, drehte Helen sich um und nahm ihre Hand.
»Liebling, ich muss dir etwas sagen. Es geht um dein Tagebuch. Es war in deinem Schränkchen, und es … es ist rausgefallen. Ich konnte nicht vermeiden, einen Blick darauf zu werfen. Schätzchen, du bist noch viel zu jung, um dich auf etwas einzulassen. Wenn du mal älter bist, wirst du das verstehen. Dein Vater und ich machen uns Sorgen, dass du … dass etwas passieren könnte und du dein Kunststudium aufgeben musst.«
Wäre es Grace gewesen, dachte Helen, hätte sie zu hören bekommen, sie solle sich zum Teufel scheren und sich um ihren eigenen Kram kümmern, aber Caroline wurde nur ganz blass, dann rot und brach schließlich in Tränen aus. »Aber ich liebe Thomas«, stammelte sie. »Ich würde nie bis zum Äußersten gehen. Bestimmt nicht.«
Genau das, dachte Helen, was sie sich selbst eingeredet hatte in jener schicksalhaften Nacht mit Bob, die zur Folge hatte, dass sie damals schwanger wurde. »Das Problem ist, Liebling«, sagte sie sanft, »dass es sehr leicht ist, die Grenzen zu überschreiten, und dann ist es zu spät. Thomas’ Mutter und ich haben beschlossen, dass es das Beste ist, wenn ihr zwei euch nicht mehr seht.«
Zu ihrer Erleichterung nickte Caroline unter Schluchzen. Grace hätte heftig protestiert! Aber Caroline wurde nur sehr blass und verzog sich hinterher ins Kinderzimmer. Sie redeten nie wieder darüber. Zum Glück lud Tante Phoebe wie jeden Sommer ihre älteste Großnichte ein (aus irgendeinem Grund wurde Grace nie berücksichtigt), was weitere Diskussionen verhinderte. Im September dann begann eine äußerst fügsame Caroline ihr Studium auf der Kunsthochschule, während Helen allein zurückblieb mit Bob und einer schmollenden Grace.
Helen fand die Postkarte kurz nach ihrem Besuch bei Tante Phoebe. Mittlerweile fuhr sie dreimal im Jahr dorthin, seit sie den Führerschein hatte. Einmal nahm sie Grace mit, da Caroline noch im College war. Grace stocherte in ihrer Rindfleischpastete herum, die ihre Großtante zubereitet hatte, und erklärte, dass sie sich Fleisch abgewöhnt habe.
»Abgewöhnt?« Tante Phoebes Miene ließ keinen Zweifel daran, dass Helen bei der Erziehung ihrer Kinder versagt hatte, obwohl Grace ein blaues und cremefarbenes Wollkleid mit Rautenmuster auf der Passe trug, das Helen nach der Anleitung in einer Frauenzeitschrift selbst gestrickt hatte und mit dem sie eigentlich gehofft hatte, ihre Tante zu beeindrucken.
»Absolut lächerlich.«
Im nächsten Moment stieß ihre Tante einen kleinen Schrei aus. »Meine Perlen. Wo sind meine Perlen?«
Phoebes Blick schnellte zu Grace. »Ich hatte sie noch an, als ihr gekommen seid. Ich kann mich deutlich erinnern, dass ich sie vorher angelegt habe.«
Unausgesprochen hing die Anschuldigung in der Luft. Ihre Tante verdächtigte Helen oder ihre Tochter, das Collier gestohlen zu haben! Umsonst suchten sie es mit ihr im Haus und krochen sogar auf allen vieren über die bunten Axminster-Teppiche für den Fall, dass die Perlen optisch mit dem blau-roten Schnörkelmuster verschmolzen waren, aber nichts.
Gerade als sie auf Phoebes hartnäckigen Wunsch hin die Polizei verständigen wollten, kam Onkel Victor herein. »Entschuldigt bitte, dass ich so spät komme, meine Lieben.« Er küsste seine Nichte auf die Wange. »Der Verkehr von Bath hierher war die reinste Katastrophe. Bitte sehr, Phoebe. Heil und unversehrt zurück.«
Er gab ihr ein kleines Päckchen, und Phoebe
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