Perlentöchter
Kamera zeichnete sich unter dem dunklen Anzug ab. Unter dem Porträt stand in Helens kunstvoller Schrift, die ihr in der Schule so viel Bewunderung eingebracht hatte: »Der Anfang von allem.«
Das Geräusch, das entstand, als sie das Foto zerriss, verschaffte ihr nur eine kurze Genugtuung. Dann sank sie auf die Küchenfliesen, die schmutzig waren von den Schuhabdrücken ihres Mannes, und begann zu weinen.
Als sie am nächsten Abend von der Arbeit kam, sah sie Bobs Wagen vor dem Haus stehen. In der Wohnung war es still. Grace übernachtete heute bei einer Freundin, und Bob hatte wahrscheinlich früher Feierabend gemacht und war schon wieder weg. Dann ging sie ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lagen eine zusammengesunkene Gestalt in einem grauen Anzug und daneben ein Pillenfläschchen.
Steif vor Schreck fühlte sie seinen Puls. Er war noch da. Dann stürzte sie zum Telefon. Die ganze Straße verfolgte vom Fenster aus, wie der Krankenwagen eintraf, aber Helen kümmerte es nicht. Als der Arzt erklärte, dass Bob nicht genügend Tabletten für eine tödliche Dosis geschluckt habe, fühlte Helen sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung.
»Warum bist du nur so feige?«, fauchte sie ihn an, als er zu sich kam. »Was hast du dir dabei gedacht?« Die Stimme, mit der das herauskam, klang nicht wie ihre eigene – sie ähnelte eher der von Tante Phoebe, wurde Helen bewusst.
Nichtsdestotrotz weigerte sich Bob auszuziehen. »Wir werden wohl ein Hausverbot für ihn beantragen müssen«, empfahl der Anwalt. »Nur gut, dass Sie die Postkarte von diesem Mädchen haben. Wir werden sie vielleicht als Beweis brauchen.«
In den Weihnachtsferien, als beide Mädchen zu Hause waren, verabschiedete Bob sich endlich, mit dem Koffer in der Hand. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss, und Helen dachte: Das war’s dann wohl. Hätte sie nicht erschüttert oder sogar erleichtert sein müssen? Aber sie spürte nichts. Warum nicht?
Caroline verschwand anschließend auf eine Party. Wie herzlos war das denn? Grace, die schmollte, weil sie noch zu jung war, um ausgehen zu dürfen, hatte sich mit ihren Schallplatten in ihrem Zimmer verschanzt. Es war Silvesterabend. Helen saß still im Wohnzimmer mit einem Whiskyglas in der Hand, während der Fernseher stumm in der Ecke lief. Bob würde nun bei seiner Mutter sein, und die beiden würden sicher furchtbar über sie herziehen. Die Mädchen, vor allem Grace, würden nun ohne ihren Vater aufwachsen. Helen wiederholte, durch ihre freie Entscheidung, ihr eigenes Lebensmuster, indem sie ihren Mädchen den Anspruch auf Vater und Mutter nahm, bloß weil sie das Gefühl hatte zu ersticken, wenn sie weiter mit Bob zusammenblieb. Zu spät – die Tortur, die Ehe aufrechtzuerhalten, schien die Schuldgefühle zu überwiegen, die nun an ihr fraßen, weil sie ihren Töchtern das Recht auf ein Zusammenleben mit beiden Eltern verwehrte.
Erst dann, während Helen auf dem Küchenboden kauerte, die Knie bis an die Brust gezogen, kam der Schmerz. Eine gewaltige Woge aus Schmerz und Angst und dumpfer Vorahnung und dem Gefühl, dass es, wie mit Clive, zu spät war für eine Umkehr.
Was um alles in der Welt hatte sie getan?
39
Eine Trennung, ganz zu schweigen von einer Scheidung, war Mitte der Siebzigerjahre immer noch ein Tabu. Zwar ließen sich immer mehr Paare scheiden, aber es war trotzdem eher die Ausnahme als die Regel. Als Helen nach und nach Nachbarn und Kollegen anvertraute, dass Bob und sie inzwischen getrennt lebten, erntete sie einige missbilligende Blicke und auch den einen oder anderen Kommentar darüber, »wie die Zeiten sich doch geändert haben«.
Sie wollte es Maude und Arthur, die inzwischen in einem Heim lebten, nicht sagen, um sie nicht zu beunruhigen. Und ihre Hand zitterte, als sie zum Telefonhörer griff, um Tante Phoebe und Onkel Victor ins Bild zu setzen.
Wie Helen erwartet hatte, machte ihre Tante trotz ihrer Abneigung gegen Bob, die im Laufe der Jahre immer mehr gewachsen war, nicht viel Federlesens. »Es gibt viele unglücklich verheiratete Paare. Man muss sich eben damit abfinden«, sagte sie brüsk am Telefon. »Wie willst du denn finanziell zurechtkommen?«
Ihr Ton suggerierte, dass Helen sich die Mühe sparen konnte, sie um Unterstützung zu bitten, und Helen legte anschließend mit rotem Gesicht auf. Sie würde sicher nicht um Geld betteln, auch wenn es ihr eine große Hilfe gewesen wäre, hätte Phoebe ihr welches angeboten. Irgendwie würde sie es schon schaffen mit ihrem
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