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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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diese Tiere. Oft ließ sie eine Bildfolge mehrmals ablaufen, um eine Beobachtung betonen, eine Erklärung vertiefen zu können. Aber sie wiederholte auch Ausschnitte, in denen die Bewegungen der Tiere einfach nur drollig waren.«Noch einmal!»rief Ruge bei einer solchen Stelle, und zu Perlmanns Überraschung fiel auch Millar ein:«Ja! Wo ist die Zeitlupe?»
    Perlmann war froh, im Dunkeln sitzen zu können. Nach dem dritten Aspirin, das er mit möglichst sparsamen Bewegungen in den Mund steckte und mit Kaffee hinunterspülte, wichen die Kopfschmerzen langsam, und er flüchtete in die weiten Steppenlandschaften, die den Hintergrund vieler Tierszenen bildeten. Oft hatte Laura Sand nicht widerstehen können und hatte virtuos mit der Belichtung gespielt, bis sich die Tierkörper im Gegenlicht bewegten wie Figuren in einem Schattenspiel. Und manchmal war die Kamera der Forschungsdisziplin entwischt und strich über die leere Landschaft, die in einem kochenden Mittagslicht flimmerte. Dann gelang es Perlmann zu vergessen, daß in genau einer Woche er es sein würde, der dort vorne saß.
    Als die Jalousien hochgingen und alle sich in dem trüben Licht eines regnerischen Tages die Augen rieben, war es schon nach zwölf. Sofort entbrannte eine Diskussion über die Grundbegriffe, mit denen Laura Sand das Beobachtete einzufangen suchte. Auch Perlmann mischte sich ein und verteidigte sie noch entschiedener als Evelyn Mistral. Dabei lief, was er sagte, allem zuwider, was er in Veröffentlichungen zu behaupten pflegte, und mehr als einmal hob Millar ungläubig die Brauen. Es war kaum ein Viertel von Laura Sands Texten besprochen, als es Zeit fürs Mittagessen wurde.
    «Sie hatten heute also Kino!»lachte Maria, als Perlmann ihr vor dem Büro über den Weg lief.«Übrigens: Ich habe Signor Millar ausdrücklich noch einmal gesagt, daß Ihr Text, wie Sie mir sagten, warten kann. Aber er wollte dann trotzdem nicht, daß ich seine Sachen schreibe, ich habe nicht verstanden, warum.»Sie lächelte kokett und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Glastür.«So bin ich denn zunächst zum Friseur gegangen und habe dann mit Ihrem Text begonnen, der mir irgendwie gefällt – wenn ich das so sagen darf. Ich unterbreche dann einfach, wenn Sie mir morgen den anderen, den dringlichen Text bringen. Va bene?» Perlmann nickte und war froh, daß von Levetzov erschien und ihn mit in den Speisesaal zog.
    «Hast du etwa einen Blick auf mein Argument werfen können?»fragte ihn Evelyn Mistral beim Nachtisch.
    «Ja, hab’ ich», sagte er und kratzte den letzten Rest des Puddings aus der Schale, während er fieberhaft überlegte, wie sie ihr Problem damals im Cafe beschrieben hatte.
    «Und? Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du es blöd findest», sagte sie mit einem angestrengten Lächeln.
    «Nein, nein, keineswegs. Die Idee, den Zusammenhang über den Begriff des Grundes herzustellen, finde ich gut.»Er hatte den Satz noch nicht beendet, da war ihm schon klar, daß er in Wirklichkeit über Leskovs Argument sprach, das in den vier widerspenstigen Sätzen steckte.
    Evelyn Mistrals Löffel kreiste ziellos in der Schale.«Ach so, ja. Das wäre auch ein Gedanke», sagte sie schließlich und warf ihm einen verlegenen Blick zu.
    «Ich... ich setze mich heute nachmittag nochmals dran. Es ist alles so... knapp mit der Zeit. »
    Etwas in seiner leisen Stimme ließ sie aufhorchen. Ihr Gesicht entspannte sich.«Schon gut», sagte sie und legte ihm kurz die Hand auf den Arm.
     
    Nachher auf dem Zimmer versuchte Perlmann vergebens, sich auf die Texte von Evelyn Mistral und Laura Sand zu konzentrieren. Es hatte ihn gedrängt, wenigstens das zu tun. Wenn er morgen hätte zeigen können, daß er zumindest in diesem Sinne gearbeitet hatte, so wäre das ein kleiner Schutz gegen alles andere gewesen, was nun unaufhaltsam auf ihn zukam. Aber es ging ihm mit dem Geschriebenen heute wieder so wie auf dem Hinflug: Als sei er auf einmal blind für Bedeutungen, vermochten die Texte nicht bis zu ihm durchzudringen und verflachten vor seinen Augen zu pedantischen Ornamenten.
    Während der nächsten Stunden ging er langsam und ziellos durch die Stadt. Beim Schreibwarengeschäft, wo er die Chronik gekauft hatte, war die Schaufensterauslage vollständig verändert. Perlmann ärgerte sich darüber, daß ihn diese Veränderung aus dem Gleichgewicht brachte; aber erst mehrere Straßen weiter gelang es ihm, die ganze Sache abzuschütteln.
    Vollständiger Unsinn, sagte er sich

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