Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
immer wieder, als er merkte, wie etwas in ihm hartnäckig versuchte, der Chronik die Schuld an der Klemme zu geben, in der er saß. An der Theke einer Bar, wo er allein einen Kaffee trank, hörte der innere Kampf schließlich auf. Die Wolken hatten sich geteilt, in den Pfützen glitzerte die Sonne, und auf einmal schien das Leben draußen wieder an Tempo und Farbe zu gewinnen. Perlmann hielt das Gesicht in das staubige Bündel von Sonnenstrahlen, das durch die schmale Glastür hereinfiel. Für einen Augenblick empfand er ein verbotenes Glück wie beim Schuleschwänzen, und als die Sonne wieder verschwand, klammerte er sich mit aller Kraft an diese Empfindung, die jedoch von Moment zu Moment hohler wurde und einer dumpfen, nur mühsam gezügelten Angst wich, die zu dem düsteren Licht paßte, das die Bar jetzt wieder ausfüllte.
    Vorerst war es ja nur Maria, der er etwas sagen mußte. Die Nachfragen der Kollegen würden erst Montag beginnen, und endgültig zuspitzen würde sich die Lage erst Mittwoch vormittag. Ein bißchen ließ sich die Angst durch diesen Gedanken beschwichtigen, und Perlmann setzte seinen ziellosen Gang durch kleine Nebenstraßen fort.
    In der Trattoria war er schon früh. Die Wirtin brachte ihm die Chronik und erzählte voller Freude, daß Sandras Zeichnungen heute morgen vom Kunstlehrer besonders hervorgehoben worden seien. Daraufhin habe sie ihr erlaubt, mit anderen Kindern nach Rapallo hinüberzufahren. Perlmann quälte sich ein Lächeln ab und stopfte mühsam die Spaghetti in sich hinein, die er heute verkocht fand. Die Frage des Wirts, wo er denn die letzten beiden Tage gesteckt habe, ärgerte ihn, und er tat, als habe er sie nicht gehört.
    Mit dem Interesse an der Chronik war es endgültig vorbei, stellte er beim Blättern fest. Gerade, als er sie zuklappen wollte, fiel sein Blick auf ein Gemälde von Marc Chagall. Auf der billigen, stark verkleinerten Reproduktion hatte das Blau viel von seiner Leuchtkraft verloren. Trotzdem hatte Perlmann sofort erkannt, daß es sich um Chagalls Blau handeln mußte. Die Abbildung gehörte zur Meldung vom Tod des Malers. Perlmann klappte den Band wieder ganz auf und las den Text. Irgend etwas war mit diesem Datum; aber es entzog sich dem erinnernden Blick und blieb ganz draußen an der Peripherie des Bewußtseins, ungreifbar wie die bloße Erinnerung an eine Erinnerung. Mit Chagalls Farben hatte es nichts zu tun gehabt, dessen war er sich sicher. Dieses Thema hatte er seit vielen Jahren gemieden, um Agnes’ hartes Urteil darüber nicht noch einmal hören zu müssen. Überhaupt war es damals, so schien ihm, eigentlich gar nicht um Chagall gegangen. Daß er sich plötzlich ganz alleine gefühlt hatte, daran war etwas anderes schuld gewesen. Aber es wollte hinter den geschlossenen Lidern nichts auftauchen, was erklärt hätte, warum die damalige Enttäuschung so eng mit seiner jetzigen Angst verbunden schien.
    Die Erinnerung kam erst, als er nachher im Hotel vor dem Fernseher saß, genauso allein und verzweifelt wie damals im Wohnzimmer, nachdem er den Vortrag abgesagt hatte. Wenn du meinst, war das erste, was Agnes gesagt hatte, als er sie, obwohl es gar keine andere Möglichkeit mehr gab, fragte. Und als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck sah: Ach ja, warum auch nicht. Das kann doch jedem passieren. Aber der lockere Ton und die wegwerfende Handbewegung hatten ihre Enttäuschung nicht zu verbergen vermocht: Ihr Mann, ein aufsteigender Stern in seinem Fach, hatte den Festvortrag, der im Auditorium maximum hätte stattfinden sollen, nicht zustande gebracht, obwohl er seit Tagen bis spät in die Nacht hinein daran saß.
    Das Schlimmste aber war, daß die zwölfjährige Kirsten hörte, wie er den Vortrag am Telefon mit Hinweis auf eine Erkrankung absagte. Aber du bist doch gar nicht krank, Papa. Warum hast du gelogen? Das war das einzige Mal, daß er seine Tochter weit weg gewünscht und einen Moment lang sogar gehaßt hatte. Er war ins Wohnzimmer gegangen und hatte gegen alle Gewohnheit die Tür zugemacht. Und dann war in den Fernsehnachrichten Chagalls Tod gemeldet worden. Die Kirchenfenster, die in dem Bericht gezeigt wurden, hatte er mit einer Inbrunst betrachtet, die ihm, als er sie bemerkte, so peinlich war, daß er schleunigst den Kanal wechselte.
    Perlmann hatte in dem Film, der vor ihm ablief, den Faden verloren und schaltete den Fernseher aus. Sieben Jahre lag das jetzt zurück. Und in dieser ganzen Zeit hatte er, so schien ihm, kein einziges Mal

Weitere Kostenlose Bücher