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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gar nicht kannte. Er versuchte, diesen Blick zu verscheuchen, indem er ihr lebendiges Gesicht heraufbeschwor, ein lachendes Gesicht, ein Gesicht im Wind, umspült von fliegendem Haar. Aber diese Erinnerungen hatten keinen Bestand und wichen bald Bildern aus dem Klassenzimmer, in dem am erhöhten Pult der Mann im stets gleichen Schillerhemd saß und mit feuchter Aussprache die Namen von Schülern in den Raum hineinbellte. Und auf einmal war es da, das Sprichwort: Ehrlich währt am längsten, nicht wahr, Perlmann!
    Perlmann bat die Stewardeß um ein Glas Wasser und ignorierte den neugierigen Blick seines Nachbarn, indem er von neuem die Augen schloß. Vielleicht wäre es damals bei den Latein- und Griechisch-Klausuren auch ohne das schmale Heftchen unter der Bank gegangen. Aber er hatte es sich nicht zugetraut. Denn eigentlich waren ihm fremde Sprachen nie leichtgefallen. Von einer besonderen Begabung konnte keine Rede sein. Bei ihm war es eben nicht wie bei Luc Sonntag, der auch die vertracktesten Ablativkonstruktionen sofort durchschaute, obwohl er ständig mit Mädchen unterwegs war. Fleißig war er, und gründlich – so gründlich, daß Agnes nicht selten aus dem Zimmer geflohen war, weil sie seine besondere Art der Gründlichkeit zum Fürchten fand. Dann hatte er sich noch tiefer in die Festigkeit seines Willens verbissen und weiter gebüffelt, um sich später einmal über das neue sprachliche Verstehen freuen zu können.
    Darin, dachte er, war er gut, vielleicht war das überhaupt das einzige, worin er wirklich gut war: mit einer unerhörten Festigkeit des Willens eine Anstrengung unternehmen um eines fernen Ziels, eines zukünftigen Könnens willen, das ihn dereinst glücklich machen würde. Dieses Verzichten, dieses Aufschieben von Glück beherrschte er in tausend Varianten, und seine Erfindungsgabe war unerschöpflich, wenn es darum ging, sich immer weitere Dinge auszudenken, die er lernen mußte, um für seine künftige Gegenwart gerüstet zu sein. Und so hatte er sich systematisch, mit unübertrefflicher Gründlichkeit, um seine Gegenwart betrogen.
    Als die Maschine aufsetzte, hatte er das Gefühl, daß dadurch etwas besiegelt wurde, auch wenn er nicht zu sagen wußte, was. Der dickliche Mann neben ihm machte ein Eselsohr in die Seite und steckte das Buch ein.«Ist es so schlecht?»fragte er grinsend, als er sah, wie Perlmann sein Buch mit Absicht in der Ablage liegenließ.
    Aus den Industrieanlagen neben dem Flughafen stiegen weiße Rauchsäulen in den Nachthimmel. Mit schweren Schritten ging Perlmann über das Rollfeld auf das rote Gebäude zu. Als er den Paß aus der Hand des Beamten entgegennahm, überfiel ihn plötzlich der Gedanke: Hier komme ich vielleicht nicht mehr lebend weg. Im Taxi bat er den Fahrer, die Musik lauter zu stellen. Aber von Zeit zu Zeit flackerte der Gedanke trotzdem wieder auf. Beim Betreten des Hotels war er dankbar für das spröde «Buona sera» von Signora Morelli, und heute abend störte es ihn nicht, daß inzwischen wieder jemand die Beleuchtung in seinem Flur in Ordnung gebracht hatte.
    Erschöpft setzte er sich aufs Bett und starrte minutenlang auf den Stapel mit den Texten von Evelyn Mistral und Laura Sand und der Post von Frau Hartwig. Die Erschöpfung ging in Gleichgültigkeit über, und plötzlich interessierte ihn nur noch sein Hunger. Er duschte rasch und ging dann hinunter zum Essen. Still wie einer, der alles verloren gegeben hat, schaufelte er das Essen in sich hinein und antwortete auf Fragen mit der milden Freundlichkeit eines Rekonvaleszenten.
    Später lag er im Dunkeln lange wach, ohne etwas zu denken. Zu rechnen gab es nichts mehr. Er würde Maria am Freitag keinen Text geben können. Die Anspannung war vorbei. Alles war vorbei. Als die Wirkung der Tablette ihn durchströmte, gab er auf und ließ sich fallen.

19
     
    Laura Sands Sitzung lief von Anfang an so gut wie noch keine andere. Die Veranda war verdunkelt, und der Projektor warf Filmbilder auf eine Leinwand, die ein bißchen schief an einem Ständer hing. Es handelte sich um längere Bildfolgen, in denen Tiere ein Verhalten zeigten, das sich schwer anders als symbolisch verstehen ließ. In kurzen Abständen kreuzten Wolken von Zigarettenrauch den Lichtkegel des Projektors. Laura Sands Stimme war sonderbar weich, und manchmal schien sie deswegen verlegen zu werden, so daß sie unvermittelt eine schnoddrige Bemerkung einstreute. Es gab, das war mit Händen zu greifen, nichts, was sie so sehr liebte wie

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