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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Erzählungen. Kein Wort hat er davon gesagt. Dann, als er das Buch unschlüssig in der Hand hielt und einen ersten Anlauf machte, mit seiner Überraschung fertig zu werden, bemerkte es Perlmann endlich: Der Autor war natürlich Nikolaj Leskov, von dem er zwar noch nichts gelesen hatte, den er aber als berühmten Namen der russischen Literatur kannte. Ärgerlich über sich stellte er den Band zurück. Als ob einer, dessen Bücher übersetzt worden sind und hier verkauft werden, Vasilij Leskovs materielle Sorgen hätte!
    Aber eigentlich galt der Ärger gar nicht seiner Gedankenlosigkeit. Was ihn auf dem Weg zum Ausgang mit jedem Schritt mehr gegen sich aufbrachte, war die Aufregung, in die ihn der Anblick des Namens versetzt hatte. Als ob er diesem Vasilij Leskov mit der Übersetzung etwas zuleide getan hätte. Warum hatte er sich ertappt gefühlt?
    Er trat durch die automatische Schiebetür nach draußen in die schneidend kalte Luft und stieß beinahe mit dem Dekan seiner Fakultät zusammen.
    «Herr Perlmann! Ich dachte, Sie seien im milden Süden! Statt dessen stehen Sie mit Ihrer sommerlichen Kleidung in unserem verfrühten Winter und schlottern! Ist etwas passiert?»
    «Was soll passiert sein», lachte Perlmann gereizt,«ich muß hier nur eine Kleinigkeit erledigen; bin heute abend schon wieder unten. »
    «Übrigens, man munkelt, Sie würden nach Princeton eingeladen. Schon jetzt meinen Glückwunsch dazu. Etwas von diesem Glanz bekommt ja auch die Fakultät ab! »
    «Davon weiß ich nichts», sagte Perlmann, und die Festigkeit in seiner Stimme gab ihm ein bißchen Sicherheit zurück. Er fror.
    «Sie frieren», sagte der Dekan,«dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Nach Weihnachten werden Sie der Fakultät ja sicher ausführlich Bericht erstatten – wo wir Sie mitten im Semester haben ziehen lassen. Nicht jeder hat das gern gesehen – was man ja verstehen kann. »
    Zweimal hielt das Taxi wegen einer Ampel vor dem Schaufenster einer Buchhandlung. Jedesmal sprang Perlmann der Band von Nikolaj Leskov in die Augen, und er kochte vor Wut bei der Entdeckung, daß er darauf reagierte wie auf ein Fahndungsfoto von sich. Zum Ärger des Fahrers drehte er das Fenster herunter und sog die kalte Luft tief ein.
     
    Der Briefkasten war mit Werbung vollgestopft, die eiskalte Wohnung roch muffig und fremd. Im ersten Augenblick hatte er das Gefühl, ein Eindringling zu sein, der nichts berühren durfte. Dann öffnete er die Balkontür und machte in seinen leichten Schuhen zwei knirschende Schritte im Schnee.
    Er zog einen dicken Pullover an. Die Heizkörper drehte er nicht auf. Wohnen konnte er hier jetzt nicht.
    Er lag vor der offenen Truhe auf dem Bauch und las in seinen Schriften. So hatte er zum letztenmal als Junge auf dem Boden gelegen, und durch alle Beklemmung hindurch genoß er die ungewohnte Stellung.
    Er war erstaunt über das, was er las. Maßlos erstaunt. Nicht nur darüber, was er einmal alles gewußt, gedacht, diskutiert hatte. Auch seine Sprache überraschte ihn, sein Stil, der ihm einmal gefiel und dann wieder gar nicht, und der ihm sonderbar fremd vorkam. Er las keinen Text ganz, sondern wühlte sich hektisch durch den Berg seiner Sonderdrucke, hier einen Anfang lesend, da einen Ausblick, und manchmal auch nur ein paar Sätze mittendrin. Was suchte er? Warum war er hergekommen? Es war doch aberwitzig zu glauben, er könne auf diese Weise herausfinden, ob er abgeschrieben hatte. Und warum überhaupt dieser Verdacht, der ihm vorher nie auch nur im Traum gekommen war? Es war doch alles peinlich genau belegt, die Literaturnachweise füllten stets viele Seiten.
    Zögernd zündete er eine Zigarette an und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Das Brot in der Brottrommel war steinhart. Er nahm die Kanne Kaffee mit ins Wohnzimmer. Vom Sofa aus blickte er nach draußen ins Schneetreiben. Die weiße Kulisse war so fremd, daß es unmöglich war zu denken, sie sei mit der Bucht vor dem Hotel in ein und derselben Zeit vereint. Er stemmte sich gegen die weiße Welt draußen und nahm Zuflucht zur Hotelterrasse, zu den schrägen Pinien, dem roten Sessel beim Fenster, dem Lichterband von Sestri Levante. Aber über diesen Bildern lag ein trüber Film von Angst und Beklemmung, und so reinigte er sie von alledem, bis sie sich zu einer Welt voll von stillem, südlichem Licht fügten, in der es nur noch Evelyn Mistrals strahlendes Lachen gab, Silvestris schlanke, weiße Hand mit der Zigarette, Ruges gutmütigen Kopf und

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