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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Millars festen Händedruck. Und unzählige Farben mit zahllosen Farbnamen.
    Das Klingeln des Telefons ließ ihn aufschrecken. Er stieß mit dem Arm die Kaffeekanne um und sah wie gelähmt zu, als die braune Flüssigkeit im hellen Teppich versickerte. Nach einer Pause klingelte das Telefon erneut. Es klingelte sehr lange. Er zählte mit, ohne Grund. Beim vierzehntenmal sprang er plötzlich auf. Als er abnahm, war die Leitung bereits tot.
    Langsam brachte er Kanne und Tasse in die Küche und spülte sie ab. Es war kurz vor drei. Das Flugzeug ging erst um sechs. Er setzte sich auf die äußerste Kante der Klavierbank und hob den Deckel der Klaviatur. Nein, am Anschlag konnte es nicht liegen, und ein Pedaltrick schien es auch nicht zu sein. Wie machte es Millar bloß, daß die Tonfolgen bei ihm diese sonderbare Gleichzeitigkeit des Erlebens erreichten? Als er den Deckel zumachte, sah er die Spuren seiner Finger im Staub und wischte sie weg.
    Auf der Fensterbank beim Schreibtisch stand ein Foto von Agnes, ein ernstes Bild, auf dem sie das Kinn in die Hand stützte. Er wich ihrem Blick aus und stand wieder auf. Etwas war zwischen sie getreten. Sie war nicht in einem konventionellen Sinne ehrgeizig gewesen. Trotzdem: Hätte sie verstanden, was dort unten mit ihm geschah? Und hätte er sich getraut, ihr das wenige anzuvertrauen, was er davon wußte?
    Zögernd ging er hinüber in ihr Zimmer, wo es noch eisiger zu sein schien. Er ließ den Blick über ihre Fotografien gleiten. Es war verrückt: Natürlich hatte er immer gewußt, daß es ausnahmslos Schwarzweißaufnahmen waren. Er war ja nicht blind. Aber erst jetzt, so kam es ihm vor, wurde ihm wirklich klar, was das hieß: Es waren keine Farben drauf. Überhaupt keine. Kein Ultramarin, kein Englischrot, kein Magenta oder Sanguine.
    Ich habe die Namen behalten. Der Magen tat ihm weh.
    Jetzt fiel sein Blick auf das zweibändige deutsch-russische Wörterbuch, das Agnes eines Tages nach langem Suchen triumphierend nach Hause gebracht hatte. Er schlug nach: abschreiben (Hausaufgaben, Lösung): spisyvat’. Abkupfern. Leise zog er die Tür, die vorher offengestanden hatte, hinter sich zu.
    In Kirstens Zimmer warf er nur einen kurzen Blick. Seit September stand dort nur noch die Hälfte ihrer Möbel. Die anderen waren in Konstanz. Den Teddy hatte sie mitgenommen, die Giraffe nicht. Am Tage des Auszugs war er früh ins Büro gegangen und erst spätnachts, nach einem Kinobesuch, heimgekommen. Erst am Tag darauf hatte er den Mut gefunden, die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen.
     
    Perlmann nannte dem Taxifahrer die Adresse seines Hausarztes. Ohne ein weiteres Rezept würden die Schlaftabletten nicht reichen. Die Praxis war wegen Urlaubs geschlossen, und die Sprechstundenhilfe beim Vertreter gegenüber war unerbittlich: Nein, kein Rezept ohne Rücksprache mit dem Arzt, und der machte bis abends Hausbesuche. Wütend ließ sich Perlmann zum Flughafen fahren. Beim Betreten der Halle war von der Wut nur noch ein Gefühl der Ohnmacht übriggeblieben. Ich kann doch unmöglich Silvestri darum bitten.
    Aber die Erzählungen von Nikolaj Leskov hatten doch wirklich nicht das geringste mit ihm zu tun, sagte sich Perlmann immer wieder, während er mit dem Band in der Hand vor der Kasse wartete. Trotzdem schlug er das Buch nachher im Warteraum sofort auf und begann aufgeregt zu lesen wie in einem Geheimdokument. Auch auf dem Weg ins Flugzeug hielt er das Buch vor die Nase und setzte sich drinnen zuerst auf den falschen Platz.
    Wäre dieser Text dem unförmigen Mann im abgewetzten Lodenmantel zuzutrauen? Dem schnaufenden Mann mit der Pelzmütze, der Pfeife und den braunen Zähnen? Perlmann verglich den Text mit Sätzen aus seiner Übersetzung, angestrengt und ohne die geringste Ahnung, wie man eine solche Frage über die Grenzen literarischer Gattungen hinweg beantworten könnte. Sie waren schon längst über den Wolken, als es ihm endlich gelang, den Zwang zu dieser absurden Beschäftigung abzuschütteln. Kaum hatte er das Buch zugeklappt und in die Ablage gesteckt, hatte er bereits vergessen, worum es in der Erzählung gegangen war.
    «Nicht spannend genug?»fragte ihn mit leutseligem Lächeln der dickliche Mann auf dem Nebensitz, der einen Groschenroman las.
    Ein letzter Lichtschein lag über dem dunklen Wolkenmeer. Perlmann machte das Leselicht aus und schloß die Augen. Ja, das war es: Agnes hatte ihn aus dem Foto angesehen, als errate sie seine Gedanken – auch diejenigen, die er selbst noch

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