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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Kittel aus der Dunkelkammer kommen, wütend über sich selbst und tröstungsbedürftig wie ein Kind. Statt zum wirklichen Film zurückzukehren, blieb er bei diesen Bildern und glitt zurück durch die Nacht bis zum Gespräch mit Kirsten. Von Chagall hatte er etwas gefaselt, und irgendeine absurde Frage über Agnes hatte er ihr gestellt. Die Einzelheiten hatte die verfluchte Tablette sofort gelöscht. Ich muß endlich damit aufhören. Aufhören. Er griff zum Mineralwasser, und als er mit dem Glas an die Kaffeekanne stieß, wandten die anderen den Kopf. Zum Glück hatte Maria vorhin vor dem Bildschirm gesessen. Auf diese Weise hatte er die vorbereiteten Sätze, die mit jeder inneren Sprechprobe noch hölzerner geklungen hatten, nicht abzuspulen brauchen.
    «Dios mio!» rief Evelyn Mistral leise aus. Perlmann sah nach vorn. Die Bilder, die jetzt liefen, waren tatsächlich atemberaubend schön. Das gläserne Licht eines frühen Morgens über der Steppe machte aus den Konturen der kargen Sträucher geheimnisvolle, poetische Gebilde, auf die sich die Einbildungskraft sofort stürzte, und das verwaschene, von einem hellen Grau durchzogene Gelb der Steppe verlor sich gegen die aufgehende Sonne hin in einer endlos scheinenden, weißen Tiefe. Der Anblick hatte Laura Sand selbst derart gefangengenommen, daß sie beim selben Ausschnitt geblieben war, bis die Arme vor Ermüdung gezittert hatten.
    Jetzt schwenkte die Kamera langsam zur Seite, und mit einemmal war die Steppe übersät von Gerippen toter Tiere. «i Jesús María!» rief Evelyn Mistral, und danach konnte man hören, wie sie mit offenem Mund Luft holte. Die Kamera bewegte sich weiter nach links, dann kam ein Schnitt, und nun sah man den Rand einer Siedlung, immer noch im selben träumerischen Licht. Die Menschen bewegten sich kaum, blickten mißtrauisch oder apathisch in die Kamera. Aufgeblähte Kinderbäuche, ausgewachsene Körper so ausgemergelt, daß die Gelenkknochen als groteske Vergrößerungen erschienen. Überall Fliegen, gegen die sich längst niemand mehr wehrte. Langsam strich die Kamera über die Siedlung. Die Bilder glichen sich. Die Kamera glitt weiter, bis die Menschen aus dem Bild verschwunden waren. Für ein paar Sekunden noch einmal die Schönheit der menschenleeren Steppe, jetzt bereits in einem Licht, das die sengende Hitze des Mittags ahnen ließ. Dann brach der Film ab.
    Für einige Augenblicke rührte sich im Dunkeln niemand, nur das Rücken von Laura Sands Stuhl war zu hören. Dann gingen Evelyn Mistral und Silvestri ans Fenster und lösten die Jalousien, die nach oben schnappten.
    «Well», sagte Millar im Ton von jemandem, der gerade etwas höchst Zweifelhaftes gehört hat.
    Ruckartig hob Laura Sand den Kopf.«Ist was?»Eine lauernde Schärfe vibrierte in ihrer Stimme.
    «Nun ja», sagte Millar,«Hunger und Tod als poetische Kulisse – ich weiß nicht. »
    Laura Sands Gesicht erschien über dem schwarzen Rollkragen noch weißer als sonst.
    «Nonsense», sagte sie und preßte das Wort so heftig heraus, daß man nur die erste Silbe richtig hörte.
    «Das», sagte Millar langsam und neigte den Kopf,«kann ich nicht finden. »
    An Adrian von Levetzovs nervöser Hand konnte man erkennen, daß er den Streit, der sich da anbahnte, nicht ertrug.«In welcher Gegend ist das gefilmt?»fragte er mit der aufgeräumten Interessiertheit eines Bildungsbürgers, in die er sonst niemals verfallen würde.
    «Sahelzone», gab Laura Sand knapp zurück.
    «Indeed», murmelte Millar, «indeed.»
    Giorgio Silvestri blies den Rauch lauter aus als nötig.«Die Bilder am Ende waren sehr eindrücklich», sagte er.«Auch wenn dieses Licht – come dire – zum Vergessen verführt. Oder zum Verschleiern. Aber eigentlich würde ich gern zum Thema zurückkommen: zur Deutung der interessanten Blicke, die sich die Tiere da zugeworfen haben. »
    Seine Stimme hatte eine sonderbare, unaufdringliche Autorität gehabt, dachte Perlmann nachher, als das fachliche Gespräch wieder in Gang gekommen war. Es war die Stimme von jemandem, der gewohnt war, in genau dem richtigen Moment einzugreifen und einer heiklen Gesprächssituation eine bestimmte Wendung zu geben. Dabei hatte dieses Eingreifen nicht das geringste von einem Chef an sich gehabt, und jetzt hatte der Italiener bereits wieder das Bein angezogen und lümmelte sich auf seinen Stuhl wie ein Teenager.
    Laura Sand blieb in ihren weiteren Beiträgen kühl, und man spürte die verhaltene Wut auch dann noch, als ihre erste Erregung

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