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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mehr an den abgesagten Vortrag gedacht. Dabei hatte er in den Nächten, die damals der Kapitulation vorangingen, das erste Mal genau die Erfahrung gemacht, die ihn nun seit Wochen lähmte und erstarren ließ: die Erfahrung, daß er absolut nichts zu sagen hatte. Sie war ein derartiger Schock gewesen, diese plötzliche Erfahrung, daß er sie hatte verbannen müssen. Und darin war er sehr erfolgreich gewesen, denn er hatte nachher Dutzende von Vorträgen geschrieben, die ihm leicht und selbstverständlich aus der Feder geflossen waren. Und diese ganze Zeit über war ihm nicht die Spur einer Erinnerung an das damalige Versagen in die Quere gekommen. Bis zum heutigen Tage, von dem aus gesehen jener Abend Ende März als der erste, drohende Vorbote der jetzigen Katastrophe erschien.
    Er nahm eine halbe Schlaftablette, probierte noch einmal alle Fernsehkanäle durch, und löschte dann das Licht. Ganz stimmte es nicht, daß die damals verbannte Erfahrung sich nie mehr gemeldet hatte. Er dachte wieder an den Moment vor einem Jahr, als er sich auf dem Konferenzprogramm plötzlich als Hauptredner aufgeführt gefunden hatte. Von der Panik, die damals aufgeflackert war, gab es, so kam es ihm jetzt vor, einen untergründig erlebten Spannungsbogen sechs Jahre zurück zu dem Tag von Chagalls Tod. Warum eigentlich nicht, hatte Agnes gesagt, als er ihr gereizt erklärte, er könne den Organisatoren der Konferenz doch nicht einfach mitteilen, er habe nichts zu sagen.
    Perlmanns Gedanken begannen an den Rändern zu verschwimmen. Wie paßten die beiden Reaktionen von Agnes, die vor einem Jahr und die vor sieben Jahren, zusammen? Er versuchte sich das Gesicht vorzustellen, das die beiden Bemerkungen begleitet hatte. Aber das einzige Gesicht, das kam, war dasjenige auf dem Foto in Frankfurt, vor dem er gestern geflohen war, weil es zuviel wußte.
    Immer dann, wenn alles Denken und Wollen zu zerfließen begann und jeden Moment die Stille einsetzen konnte, schrak er auf, und dann verkrampfte sich alles hinter der Stirn. Beim viertenmal machte er Licht und wusch sich im Bad das Gesicht. Dann wählte er Kirstens Nummer. Ihre verschlafene Stimme klang gequält.
    «Oh, entschuldige», sagte er,«ich hab’ dich geweckt. »
    «Ach, du bist es, Papa. Sekunde.»Er hörte ein wischendes Geräusch, dann eine Weile nichts mehr. Erst jetzt sah er auf die Uhr: Viertel vor eins.
    «So, da bin ich wieder. »Jetzt klang ihre Stimme frischer.«Gibt’s was Besonderes? Oder rufst du nur so an?»
    «Eh... nur so. Das heißt... eigentlich wollte ich dich fragen, warum Agnes... warum Mama Chagalls Farben nicht mochte.»Er verfluchte sich, daß er sie mit seiner schweren, pelzigen Zunge angerufen und nicht wenigstens vorher eine Sprechprobe gemacht hatte.
    «Was für Farben?»
    Er ballte die Faust und war versucht, einfach aufzulegen.«Die Farben auf Marc Chagalls Bildern. »
    «Ach so. Chagall. Du sprichst so undeutlich. Na ja... ich weiß nicht... eine komische Frage. Hat sie sie denn wirklich nicht gemocht? »
    «Ja, hat sie. Aber jetzt noch was anderes: Glaubst du, sie hätte es verstanden, wenn ich mal nichts zu sagen gewußt hätte?»
    «Wie: nichts zu sagen?»
    «Wenn mir... ich meine, wenn mir mal einfach nichts eingefallen wäre. »
    «Zu was?»
    «Zu... einfach so. Nichts eingefallen. Und die anderen warteten.»«Papa, du sprichst in Rätseln. Welche anderen denn?»
    «Die anderen eben. »Er hatte es so leise gesagt, daß er unsicher war, ob sie es gehört hatte.
    «Ich verstehe nur Bahnhof. Papa, was ist los mit dir?»
    Er versuchte, ganz schnell Speichel zu erzeugen, und ließ ihn über die Zunge laufen.«Nichts, Kirsten. Es ist nichts. Ich wollte nur ein bißchen mit dir reden. Gute Nacht jetzt. »
    «Eh... ja. Dann also... gute Nacht.»
    Er ging ins Bad und nahm noch eine Vierteltablette. Zum Glück hatte er sie nicht gefragt, ob sie sich an den abgesagten Vortrag damals erinnere. Viel hatte nicht gefehlt. Er drehte sich auf den Bauch und preßte das Gesicht ins Kissen, als könne er dadurch den Schlaf herbeizwingen.

20
     
    Auch Laura Sands zweite Sitzung begann mit Filmbildern. Es war ganz anderes Material als am Tag zuvor, und in der ersten halben Stunde kamen hin und wieder Bildfolgen, bei denen sie sich in der Blende vertan hatte. Sie schimpfte über die schlechte Qualität der Filme dort unten, aber Perlmann sah sofort, daß es daran nicht gelegen hatte. Beinah so deutlich, als seien es hineingeschnittene Filmbilder, sah er Agnes im weißen

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