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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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jetzt dämmerte ihm, daß die verkrampfte Müdigkeit, die statt der Erleichterung eingesetzt hatte, Enttäuschung war – Enttäuschung darüber, daß es nun doch noch nicht zu Ende war, und daß nun noch einmal eine lange Reihe von Tagen kam, in denen er diese Spannung, diese Angst und vor allem auch diesen fehlenden Glauben an sich selbst durchleben mußte. Er zog die Vorhänge zu, nahm das Viertel einer Schlaftablette und legte sich ins Bett. Kurz bevor er einschlief, klopfte es an der Tür. Er reagierte nicht.
    Es waren eigentlich gar nicht Chagalls Farben, die er im Traum verteidigt hatte, dachte er, als er in der Dämmerung aufwachte und sich, auf dem Bettrand sitzend, die pochenden Schläfen massierte. Zwar war der Name des Malers ständig durch seine Gedanken gegeistert, aber das, was er mit heiserer Stimme und ungewissen Worten gegen eine Wand von Ungläubigkeit geschrien hatte, war eine Verteidigung von Laura Sands poetischen Bildern des Leids gewesen.
    Er ging unter die Dusche und versuchte, die Worte zu finden, die im Traum nur wütende Absicht geblieben waren. Es kamen Worte, er sagte sie in den Wasserstrahl hinein, verschluckte sich und verschärfte daraufhin seine Verteidigung, bis sie zu einer Brandrede wurde, die in der Behauptung gipfelte, daß überhaupt nur schöne Bilder es vermöchten, das Leid als das darzustellen, was es war – weil nämlich Schönheit Wahrheit war und die einzige Wahrheit, welche die ganze Tiefe des Leids auszuloten vermöge. Als er das Wasser abstellte und sich mit dem Handtuch den Chlorgeschmack aus dem Gesicht rieb, schauderte ihn vor seinem Kitsch, und er war froh, für eine Weile der nüchternen, langweiligen Stimme des Nachrichtensprechers im Fernsehen zuhören zu können.
    Beim Essen versetzte ihn Achim Ruge in Erstaunen. Mitten im Hauptgang und ohne das Zerlegen des Fischs zu unterbrechen, sagte er plötzlich:
    «Wissen Sie, Brian, ich habe überhaupt nicht verstanden, was Sie an Lauras Film so gestört hat. Es sind doch sehr genaue, sehr beredte Aufnahmen – viel besser als alles, was man im Fernsehen dazu zu sehen bekommt. »
    Laura Sand aß weiter, ohne auch nur aufzublicken. Millar ließ Messer und Gabel sinken, nahm die Brille ab und putzte sie ausführlich.
    «Nun, Achim», sagte er dann,«ich sehe das so: Das Träumerische, fotografisch Gelungene deckt in diesem Fall eher zu als auf. Schönheit, könnte man sagen, lügt hier. Natürlich meine ich nicht, Laura, daß Sie es sind, die lügen», fügte er rasch hinzu, ohne jedoch einen Blick von ihr zu bekommen,«ich meine es in einem... wie soll ich sagen... objektiven Sinne. Wahrhaftige Bilder von Hunger und Tod brauchen natürlich nicht schlecht zu sein. Aber sie sollten, finde ich, trocken sein wie Agenturmeldungen. Nüchtern. Vollkommen nüchtern. Auf keinen Fall verträumt. Und ich halte das nicht für eine ästhetische Frage. Sondern eine moralische. Sorry, aber so sehe ich das nun mal. »
    Er wartete auf eine Reaktion von Laura Sand, aber das Warten war auch jetzt vergeblich, so daß er sich nach einer entschuldigenden Handbewegung in Ruges Richtung wieder dem Essen zuwandte.
    Für eine Weile war nur das Geräusch von Besteck zu hören, und der Kellner, der Wein nachschenkte, wirkte wie ein Eindringling. Perlmann wehrte sich mit aller Macht gegen das Gefühl, daß an dem, was Millar gesagt hatte, etwas dran war. Er war versucht, sich in die entgegengesetzte Auffassung zu verbeißen, und diese Regung hatte auch damit zu tun, daß ihm Millars behaarte Hände auf die Nerven gingen, die imstande waren, diese rätselhafte Gleichzeitigkeit der Töne bei Bach zu erzeugen und die jetzt so sorgfältig wie Chirurgenhände mit dem Fischbesteck umgingen. Doch dann dachte er an den Chlorgeschmack unter der Dusche und biß sich auf die Lippen.
    «Das überzeugt mich nicht», sagte Ruge jetzt.«Leid ernst zu nehmen und sich davon moralisch anrühren zu lassen, das kann doch nicht heißen, daß man Schönheit leugnet. Oder verbietet, gewissermaßen. »
    Laura Sand warf ihm einen zustimmenden Blick zu.
    «Eh... nein, natürlich nicht», sagte Millar gereizt.«Habe ich auch nicht gemeint. Aber in Lauras Film gibt es da eben einen Widerspruch. Den kann man doch nicht wegdiskutieren. »
    «Sicher. Soll man ja auch nicht», lächelte Ruge.«Worum es mir geht, ist einfach dies: Das ist ein Widerspruch, den wir hier – und anderswo – aushalten müssen. Aushalten. Ohne ihm auszuweichen.»
    «Ecco!» sagte Silvestri.
    Laura

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