Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
ausgelöscht vorgekommen war. Er duschte. Hier in diesem Loch, wo die Dusche nur aus wenigen dünnen Wasserstrahlen bestand, weil die meisten Löcher der Brause verkalkt waren, stand ihm das zu, zumal nur kaltes Wasser kam. Er frottierte sich lange mit einem zerschlissenen, löcherigen Tuch und zog dann widerstrebend das im Schlaf verschwitzte Hemd wieder an.
Das gegenüberliegende Fenster war jetzt geschlossen, er zog die Vorhänge auf und lüftete den verrauchten Raum. Der schmale Streifen Himmel, den man von dieser Gasse aus sah, war jetzt dunkelgrau, und es herrschte ein Licht, das an eine frühe Dämmerung im Dezember denken ließ. Er blieb mit dem Rücken zum Fenster stehen, rauchte und genoß es, sich in das Recht verbeißen zu können, bis fünf Uhr in diesem Zimmer zu bleiben. Auf die Minute genau um fünf ging er hinunter und warf, ohne den Wirt eines Blickes zu würdigen, den Zimmerschlüssel so heftig auf die Theke, daß er auf der anderen Seite hinunterfiel.
Er hatte Hunger, seit einer Ewigkeit das erste Mal, wie ihm schien. Der nächste Bus zurück ging erst um halb sieben. Für ein Taxi reichte das Geld nicht mehr, er hatte nicht einmal genug für die Bude, in der man stehend eine Pizza essen konnte. Nach einigem Suchen gelang es ihm, ein halbes Brot und ein Stück Käse zu kaufen. An den unbeleuchteten, verlassenen Souvenirgeschäften vorbei ging er hinunter zum Hafen und setzte sich auf einen kalten Stein der Mole. Das Grau des Wassers ging in der Ferne bruchlos über in das Grau des Himmels. Das Cafe von heute morgen war beleuchtet, aber leer.
Er zog all seine Kräfte auf einen einzigen inneren Punkt zusammen und stellte sich vor, wie er in gut zwei Stunden drüben im Hotel den Speisesaal betreten, sich hinsetzen und im Verlauf des Essens auf die ersten Kommentare zu Leskovs Text reagieren würde. Vorsichtshalber zwang er sich sogleich, an die Liste der entlastenden Gesichtspunkte zu denken, die er in dem düsteren Hotelzimmer erarbeitet hatte, und zu seiner großen Erleichterung blieb die Panik aus. Statt dessen breitete sich Beklommenheit in ihm aus, die Beklommenheit von einem, der einen langen und unangenehmen Weg vor sich hatte, der seine ganze Festigkeit erfordern würde und seine ganze Wachheit. Es ließ sich überstehen, dachte er, wenn er vor allem anderen dieses eine niemals aus den Augen verlor: Sie wußten es nicht; sie würden es niemals erfahren.
Das Schlimmste waren die Sitzungen in der Veranda, wo sein Text – Leskovs Text – diskutiert würde. Aber diese Sitzungen bestanden aus einer begrenzten Anzahl von Stunden und Minuten. Sie würden sich endlos anfühlen. Aber sie würden vorbeigehen, und dann waren es nur noch drei Tage, bis alles zu Ende war und die anderen abreisten.
Das meiste von dem Brot und dem Käse warf Perlmann in einen Abfallbehälter, als er durch die Hauptgasse, die an eine Geisterstadt erinnerte, zum Bus ging. Ein Glück, daß er die Namen von Lurijas Schülern ausgestrichen hatte, dachte er, als der Bus losfuhr. Sie hätten Verdacht erregen können. Mit Lurija selbst war das anders, den kannte jeder.
Mitten auf der Strecke, wo die Küstenstraße besonders eng war, kam ihnen der andere Linienbus entgegen. Es gab ein leichtes Knirschen, der Fahrer fluchte, und dann standen die beiden Busse minutenlang nebeneinander, nur Zentimeter voneinander entfernt. Keiner der beiden Fahrer schien die Verantwortung für das Weitere übernehmen zu wollen.
Perlmann saß an einem Fenster zur Mitte der Straße hin. Die Leute aus dem anderen Bus gafften herüber, aus dem schummrigen Licht der Innenbeleuchtung heraus schienen sie alle nur ihn anzustarren. Ihre Gesichter wurden mit jedem Augenblick höhnischer, er fühlte sich an den Pranger gestellt, ein Betrüger, der den anderen als abschreckendes Beispiel vorgeführt wurde. Ein kleiner Junge zeigte auf ihn, der Zeigefinger wurde an der Scheibe plattgedrückt, dazu lachte er und zeigte eine große Zahnlücke, die Perlmann diabolisch anmutete. Aber ich bin doch kein Verbrecher. Er wußte nicht, wie er die nächste Sekunde überstehen sollte, und fürchtete, gleich einen hysterischen Anfall zu bekommen. Er schloß die Augen, aber die Blicke der anderen, die gebündelt auf ihn gerichtet waren, blieben spürbar. Er sah das Bild von Verhafteten vor sich, die die Jacke über den Kopf zogen, wenn sie durch die Gasse der Fotografen gehen mußten. Krampfhaft dachte er an seine Liste und stellte sie sich als ein weißes Blatt vor,
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