Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
auf dem die drei Gesichtspunkte in Druckschrift untereinander standen: Notwehr; eigene Gedanken; Vernichtung. Er machte die Augen erst wieder auf, als der Fahrer Gas gab.
Auf dem Rest der Fahrt saß er ganz still, ganz regungslos, als sei das nötig, um zu verhindern, daß eine Panik in ihm aufbrach.
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Er war erleichtert, daß niemand hinter der Empfangstheke stand, als er die Hotelhalle betrat. Aus seinem Schlüsselfach ragte Leskovs Text, der verhängnisvolle Blätterstoß, den er an dieser Stelle, vor einundzwanzig Stunden, dem zerstreuten, ungeduldigen Giovanni übergeben hatte. Die anderen hatten ihre Exemplare abgeholt, nur in Silvestris Fach steckte noch eins. Rasch ging Perlmann um die Theke herum und nahm die Blätter aus seinem eigenen Fach. Er war versucht, auch Silvestris Exemplar an sich zu nehmen, und hatte den Arm schon halb ausgestreckt, da hörte er im Nebenraum ein Geräusch und zog sich schnell zurück.
Auf der Treppe kam ihm, vor einer Gruppe von Leuten in Abendkleidern gehend, von Levetzov entgegen. Bevor dieser von sich aus etwas tun konnte, hob Perlmann das eingerollte Manuskript ein bißchen hoch, sagte hallo und schlüpfte an den Leuten vorbei, zwei Stufen auf einmal nehmend, erleichtert, daß die Gruppe, die jetzt wieder die ganze Breite der Treppe einnahm, zwischen ihnen war. Es hätte ja doch nichts genützt, wenn ich Silvestris Exemplar weggenommen hätte, dachte er, als er in seinen Korridor einbog. Wahrscheinlich hätte es nur Verwirrung gestiftet. Vielleicht sogar Verdacht erregt. Und sie hätten für ihn ohnehin eine neue Kopie gemacht. Man kann von Kopien andere Kopien machen. Und davon wieder andere. Tausende davon. Hunderttausende.
Im Zimmer ging er als erstes zum Schrank und schob den Text in der oberen Wäscheschublade unter die Hemden. Dann blickte er sich um. Der Gegensatz zwischen dem engen Zimmer des Nachmittags und diesem weitläufigen Raum war überwältigend. Es dünkte ihn, er habe Tage in jener trüben, muffigen Bude verbracht. Ängstlich wartete er darauf, daß ihm der Luxus des Zimmers von neuem als etwas Verbotenes vorkommen würde, etwas, was ihm nicht mehr zustand. Aber dieses Gefühl blieb aus, und nach einer Weile drehte er an dem glänzenden, verzierten Messinghahn und ließ ein Bad ein.
Es war bald acht, und er war verwundert, wie ruhig er dem Moment entgegensah, in dem er den Kollegen zum erstenmal als unentdeckter Betrüger gegenübertreten würde. Erst als er in der marmornen Badewanne saß, begriff er, daß diese Ruhe die Gleichgültigkeit der vollständigen seelischen Erschöpfung war. Nach zwei Tagen des Umherirrens, der Ausweglosigkeit und der Verzweiflung war nur noch eine dumpfe Leere in ihm.
Diese Leere, die an Empfindungslosigkeit grenzte, hielt an, während er langsam die Treppe hinunterging, und er trug sie vor sich her wie einen Schutzschild, als er den vollen Speisesaal mit den Samstagabendgästen betrat und sich neben Evelyn Mistral an den Tisch setzte, dankbar dafür, daß der andere Stuhl neben ihm wegen Silvestris Abwesenheit frei blieb.
Die anderen waren bereits bei der Vorspeise. Das Gespräch, an dem offenbar Millar, Ruge und Laura Sand beteiligt gewesen waren, brach ab, und die eintretende Stille, in der man die Geräusche des Bestecks und das Lachen vom Nebentisch hörte, war in Perlmanns Ohren wie eine verwunderte Feststellung: Er ist seit vier Tagen das erste Mal wieder beim Essen, und dann auch noch zu spät. Ohne jemanden anzublicken fing er an, seine Avocado zu essen. Sie schmeckte nach nichts, das weiche, mehlige Fleisch war nur wie irgendeine beliebige Substanz im Mund. Er war dabei, einen langen inneren Anlauf zu nehmen, und jedesmal, wenn er den Löffel mit einer Drehung der Hand erneut in das hellgrüne Fleisch grub, war es, als verlängere sich dieser Anlauf noch weiter.
Endlich hob er den Kopf und sah die anderen an, einen nach dem anderen, bemüht, diese Abfolge nicht zu mechanisch erscheinen zu lassen. Ihre Blicke, die schon eine ganze Weile auf ihm geruht haben mußten, schienen erst jetzt ganz bei ihm anzukommen, und nun galt es, diesen Blicken standzuhalten im Schutze der Gewißheit, daß sie nicht bis hinter seine Stirn vorzudringen vermochten. Sie wissen es nicht; sie werden es niemals erfahren. Er spürte, wie sein Puls schneller ging, und als er Millar ansah, der in ironischer Resignation die Brauen hob, mußte er sich von innen her mit besonderem Nachdruck in seinen Blick hineinstemmen, um ihn
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