Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Gedankengänge zurück, die er gestern auf dem Schiff angesponnen hatte, damals noch entsetzt und voller Scham darüber, daß er sich überhaupt darauf einließ, so etwas zu denken. Erstens war es so gut wie ausgeschlossen, daß jemals eine Verbindung zwischen einem der Kollegen hier und dem unbekannten Leskov im fernen St. Petersburg zustande kam, die eine Bedrohung darstellen könnte. Und zweitens würden die sieben Exemplare der Übersetzung, die sieben Manifestationen und materiellen Beweise seines Betrugs, die existierten, irgendwann in Vergessenheit geraten und schließlich vernichtet werden. Und mit dem Verschwinden des Papiers aus der Welt würde auch der Betrug getilgt und aus der Welt geschafft sein – es würde genau so sein, als hätte es ihn nie gegeben.
Perlmann spürte, daß es irgendwo in diesem Gedanken einen gewagten Sprung gab, einen Übergang, der nicht einwandfrei war. Aber er wollte nicht genauer hinsehen, er wollte nach vorne blicken auf den Punkt in der Zukunft, an dem die Welt, was seine Integrität anlangte, wieder genau so sein würde wie vor dem Betrug. Erneut setzte er sich auf die Bettkante und rauchte hastig, mit angespanntem Körper, so, als könne er die Zeit dadurch antreiben, jenen fernen Punkt der wiedergewonnenen Unschuld schneller zu erreichen.
Er stellte sich vor, wie es bei der Vernichtung des Papiers und der Schrift zugehen könnte; es schien ihm, sein Gedankengang werde in dem Maße richtiger und zwingender, als es ihm gelang, sich den Vorgang bis in jede Einzelheit auszumalen. Millars Exemplar beispielsweise würde eines Tages in einem der schwarzen, glänzenden Müllsäcke auf einer Straße in New York landen. Der Text würde vielleicht schon im Sack zerstört werden, etwa durch eine auslaufende Flüssigkeit, bestimmt aber durch Regen auf einer Müllhalde, Perlmann konnte das Rauschen förmlich hören. Am liebsten war ihm die Vorstellung, die Schrift sei aus Tinte, so daß die Buchstaben zerliefen und die unheilvolle, schuldhafte Anordnung der Linien rückgängig gemacht würde. Oder der Text würde in einer Müllverbrennungsanlage in Flammen aufgehen. Eines Tages – in einigen Monaten, einem Jahr vielleicht, oder zweien – würde es diesen unseligen Text, diese Folge von Zeichen, dieses Muster von Molekülen in der Welt nicht mehr geben. Geben würde es dann noch Erinnerungsspuren in den Köpfen der Kollegen. Aber die würden immer vager werden, übrig bleiben würde am Ende nur noch das ungefähre Thema. Gerade in den Köpfen der gefährlichsten Gegner wie Millar und Ruge würde die Erinnerung besonders schnell verblassen, denn sie hatten den Text ohnehin als etwas Verblasenes wahrgenommen, als etwas, das gar keine scharfen gedanklichen Umrisse hatte, da lohnte sich die Anstrengung der genauen Erinnerung nicht.
Perlmann wurde ruhiger und legte sich wieder hin. Jetzt gewannen auch die Überlegungen von vorhin ihre Wirkung zurück, und er machte in Gedanken eine kleine Liste, einen Spickzettel mit den Punkten, die er sich immer wieder vor Augen führen konnte, um die Empfindungen der Angst und der Schuld zu lindern: Es war pure Notwehr gewesen; Leskovs Gedanken waren auch seine eigenen; nach einiger Zeit würde alles wieder so sein wie vorher. Er ging diese Punkte immer wieder durch, in wechselnder Reihenfolge, anfangs dachte er über die Rangfolge nach, dann wurde die innere Aufzählung immer mechanischer, sie wurde zum bloßen Ritual der Selbstbeschwichtigung, und darüber schlief er schließlich ein.
Es dauerte lange, bis er die Faustschläge an der Tür und die unangenehme, bellende Stimme des Wirts hörte, der rief, es sei Zeit. Er setzte die Brille auf und sah auf die Uhr. Kurz nach vier. Seine Wut war heftig wie eine Stichflamme. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und schrie dem Wirt ins Gesicht, er habe bis fünf Uhr bezahlt. Später, in dem engen Badezimmer, das nur durch eine trübe Funzel beleuchtet wurde und in dem es nach Chlor und Kanalisation roch, war ihm der hysterische Klang, den seine Stimme eben gehabt hatte, unangenehm, und als er seine Hände unter dem Wasserhahn zittern sah, blickte er weg.
Trotzdem war er froh über seine Wut. Wütend zu sein, das hieß, sich als einen zu erleben, der das Recht hatte, etwas übelzunehmen, einem anderen etwas vorzuwerfen, und das wiederum bedeutete, sich selbst ein Recht auf Dasein zuzugestehen, ein Recht, das ihm heute morgen, als er auf den Felsvorsprung zugehastet war, wie durchgestrichen oder
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